Korsika, Tag 1: Schein und Sein
Französinnen und Franzosen sind unsympathisch und können keine Fremdsprachen. Außerdem sind sie unpünktlich und die meisten von ihnen spazieren mit einem Baguette unter dem Arm durch die Gegend. So weit zu den Vorurteilen.
Tatsächlich erlebte ich Frankreich, um genauer zu sein Korsika, an meinem ersten Reisetag anders, als mich Familie und Freunde vorgewarnt hatten. Aber von vorn:
Die Sonne steht schon tief am Horizont. Es ist warm im frühherbstlichen Calvi, einer charmanten Stadt im Nordwesten von Korsika. Gruppen älterer Menschen stehen beieinander und spielen Boule, Pétanque um genau zu sein. Jüngere lassen den Abend bei einem Picknick an den Klippen vor der Zitadelle Calvis ausklingen. Wieder andere sitzen bei einem Glas Wein beisammen und diskutieren über die politische Lage des Landes. Ein heißes Thema. Soweit ich ihren Gesprächen eben folgen konnte. Französisch spreche ich keines - und auch das mitgebrachte Wörterbuch reicht nicht wirklich für ein Gespräch aus, das über belanglosen Smalltalk hinausgeht. Wie gut, dass Menschen hier auch Englisch sprechen. Entgegen aller Warnungen.
Marie etwa. Sie hat es sich in einer Bucht nordwestlich von Calvi auf einem großen Stein gemütlich gemacht. „Junge Menschen sehen hier nur wenig Perspektiven. Wir Korsen sehen uns selbst nicht als Franzosen“, erklärt die junge Frau. Sie wirkt nicht glücklich. Diese Unzufriedenheit und der Wunsch nach Autonomie, den Marie beschreibt, und den auch ihre in Falten gelegte Stirn unterstreicht, schlägt sich im Korsikakonflikt nieder. Seit 1970 brodelt dieser zwischen der Insel im Mittelmeer und dem französischen Festland. Mal mehr, mal weniger. Federführend voran: die Bewegung Fronte di Liberazione Naziunale Corso. Zuletzt 2022 kam es auf der Insel zu gröberen Protesten und Ausschreitungen.
Kaum zu glauben. Dabei wirkt hier irgendwie alles so ruhig und harmonisch. Die Sandstrände, die vielen liebevoll geführten Cafés, das Croissant um 1,50 Euro. Ach, und da wären dann noch die Fallschirmspringer, die Woche für Woche über Calvi zu Boden gleiten. Doch dazu morgen mehr. Denn hier sind wir schon mitten drin im Thema.