Nordmazedonien, Tag 3: Eine Pass-Politik mit Folgen
Mazedonier und Mazedonierinnen reden gern - und viel, wenn man sie lässt. Es gibt aber durchaus Themen in der Gesellschaft, die nicht direkt angesprochen und diskutiert werden. Eines davon ist das der bulgarischen Reisepässe. Es ist ein - wohl nicht unwesentlicher - Teil der Veto-Geschichte, die das kleine Land seit Jahren beschäftigt.
Denn das Ziel, EU-Mitglied zu werden, ist seit zwei Jahrzehnten gleichzeitig so nah wie fern. Lange Zeit war es Griechenland, das den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen aufgrund eines historischen Namensstreits blockierte. Mit der Umbenennung des Landes in Nordmazedonien schien der Weg endlich frei. Seit 2020 ist es aber der östliche Nachbar Bulgarien, der dem Westbalkanstaat Steine in den Weg legt. Es geht um Identität, historische Ereignisse und Minderheitenrechte.
Die Regierung in Sofia besteht etwa darauf, dass Bulgarinnen und Bulgaren als Minderheit in der mazedonischen Verfassung verankert werden. In der mazedonischen Verfassung sind die Rechte für verschiedene ethnische Minderheiten, insbesondere die der Albaner als größte Minderheit, festgeschrieben. Weitere Minderheitengruppen, wie Türken, Roma, Bosniaken und Serben, werden ebenfalls in der Verfassung erwähnt. Die derzeitige rechtskonservative Regierung von Premier Hristijan Mickoski von der Partei VMRO-DPMNE lehnt die bulgarischen Forderungen und damit die Verfassungsänderung ab.
Hier befinden sich seit Jahren beide Seiten - Bulgarien und Nordmazedonien - in einer Sackgasse: Nordmazedonien will die bulgarische Minderheit nicht anerkennen und macht dadurch keine Fortschritte in seinem Vorhaben, der EU beizutreten. So einfach ist es aber nicht.
Ein Zahlenspiel
Dazu erst einmal ein paar Zahlen: Laut Volkszählung 2021 bekennen sich 3.504 Personen zur bulgarischen Minderheit – das entspricht knapp 0,2 % der Bevölkerung. Offiziell ist es also eine sehr kleine Minderheit - zu klein, um ihr Minderheitenrechte in der Verfassung zuzuschreiben, argumentiert die nordmazedonische Seite. Tatsächlich soll diese Minderheit aber viel größer sein - aufgrund von Doppelstaatsbürgern. Und dieses Argument bringt wiederum Bulgarien ein. Es ist ein Ringen um die richtige Zahl, die das jeweilige Anliegen unterstützen soll. 3.504, 20.000, 120.000 Bulgaren - das sind nur einige der Zahlen, die in diesem Zusammenhang kursieren. Verlässliche, aktuelle Daten und Statistiken gibt es nicht. Auch nicht, wenn die Frage lautet: “Ethnisch-bulgarisch” oder “Pass-bulgarisch”.
Denn seit 2001 sollen fast 97.000 Personen nordmazedonischer Herkunft die bulgarische Staatsbürgerschaft beantragt haben. Zehntausend weitere Anträge sollen außerdem noch offen sein. Bulgarien gibt den Nordmazedoniern das Recht, die bulgarische Staatsbürgerschaft zu erhalten, sofern sie eine bulgarische Herkunft nachweisen können. Das ist die Theorie. Die Praxis - und das erfahre ich aus zahlreichen Gesprächen während meiner Reise - zeigt etwas anderes. Nämlich die für viele Jahre offenbar sehr lockere, wenn nicht sogar sehr offensive “Pass-Politik” Bulgariens.
Pass-Politik mit Folgen
Dafür habe mich mit einem Mazedonier in Skopje getroffen. Er ist Mitte 30, tritt eloquent auf. Er erklärt sich bereit, mir zu erzählen, wie er vor zehn Jahren zu einem bulgarischen Pass gekommen ist. Weil das aufgrund des aktuellen politischen Konflikts, aber auch innerhalb seiner Familie, ein sensibles Thema ist, ist er nur gewillt unter Zusicherung von Anonymität darüber zu sprechen. 2015, als der Nordmazedonier seinen bulgarischen Pass bekam, war Bulgarien bereits seit acht Jahren EU-Mitglied (2007 beigetreten). Das “Warum” ist deshalb auch schnell geklärt: Mit einem bulgarischen Pass sei es der schnellste, einfachste und billigste Weg gewesen, im (EU-)Ausland zu studieren. Bulgarische Verwandte? Fehlanzeige. Es hätte auch niemand danach gefragt. Es hätte bereits genügt, dass er behauptete, er “fühle” sich als ethnischer Bulgare - obwohl er mit Bulgarien eigentlich nichts zu tun hat.
Tausend Euro habe er dafür bezahlt. 2015 hätte es in Nordmazedonien sogar Werbung für bulgarische Pässe gegeben. Es sei ein offizielles Prozedere gewesen, auch, wenn es offensichtlich gewesen sei, wenn die bulgarischen Beamten ein Auge zugedrückt haben. Die “Pass-Anwärter” seien schließlich in Gruppen in Bussen nach Bulgarien gefahren, um sich dort ihre Reisepässe abzuholen. Darunter die unterschiedlichsten Berufsgruppen, die aber alle laut meinem Gegenüber einte, dass sie aus ökonomischen Gründen einen bulgarischen Pass brauchten. Der leichte Zugang mit bulgarischem Pass in die EU als “Plan B”, als Absicherung für die Zukunft. Das erzählt mir nicht nur dieser Mann, sondern auch eine junge, 21-jährige Frau, mit der ich eine Mitfahrgelegenheit teile. Auch sie hat einen bulgarischen Pass. Ihr Vater habe der ganzen Familie bulgarische Pässe besorgt, als sie erst drei Monate alt war.
Seit einigen Jahren - meine Gesprächspartner spekulieren, ob wegen des politischen Konflikts oder wegen des Schengen-Beitritts - soll es nicht mehr so einfach sein, als Mazedonier zu einem bulgarischen Pass zu kommen. Man brauche jetzt tatsächlich Verwandte - und mehr Geld. Jene, die einen Pass haben, sind froh darüber, und wollen ihre bulgarischen Reisepässe regelmäßig verlängern lassen, auch, wenn sie sich nicht als Bulgaren sehen, wie sie betonen. Hausieren gehen sie damit trotzdem nicht: “Jealousy” - also Eifersucht von Mazedoniern ohne bulgarischen Pass, würde ihnen begegnen.