Estland, Tag 4: Rückenschmerzen und Interviews

von Florian Sulzer (Nachtrag vom 28.Sep.)

Die Nacht im Zelt war lang, aber dafür ausreichend warm. Gefühlt einmal die Stunde habe ich auf meinem Handy die Uhrzeit gecheckt und mich auf die andere Seite gewälzt. Der Kamin ging zwar kurz nach zwei Uhr früh endgültig aus, aber der dicke, zweischichtige Schlafsack (Sommer- und Winter-Inlay) der Kaitseliit hielt mich angenehm warm. Nur die dünne Isomatte hat mir mein Rücken nicht verziehen. Vom Aufwachen bis zum Aufstehen sind somit doch locker dreißig Minuten vergangen, bis die Rückenschmerzen moderat genug zum Aufstehen waren. Die erste (aber diesmal auch einzige) Nacht im Zelt ist immer schwer.

Rander und Artur

Zwei der Burschen – Rander und Artur – haben die Nacht im Freien verbracht und schlafen noch, als ich an ihnen vorbei zum Auto spaziere. Zum Frühstück gibt es entweder ungetoastetes Brot und wahlweise Butter, Käse, eine Scheibe Wurst oder Corny Müsliriegel mit Schoko-Bananen Geschmack. Ich kann mich nicht entscheiden und greifen bei beiden zu. Heute steht außer dem Abbau des Lagers eigentlich nichts mehr auf dem Programm und somit bleibt noch Zeit mich mit einigen der Jugendlichen und den Gruppenleitern zu unterhalten. Helina, die Gruppenleiterin der Mädchen und die Ehefrau von Gruppenleiter Taavi, spielt die Übersetzerin. Da gibt es zum Beispiel Marion (18), Mitglied bei den “Kodutütred” (Heimattöchtern) und Tochter der beiden Gruppenleiter. Als sie 14 Jahre alt war, war sie fest entschlossen zum Militär zu gehen. Doch hat sich dann den Rücken verletzt und will stattdessen heute ihr Wissen innerhalb der Organisation weitergeben. Marion hat Angst vor einem möglichen Angriffs Russlands und will deshalb in ein paar Jahren, wenn ihr Freund die Schule fertig absolviert hat, auswandern. Nach Österreich. Warum? Ihr Freund war vor ein paar Jahren dort und war wahnsinnig begeistert. In ihrer Organisation hat sie die höchste Stufe (1) inne. Also man startet bei Level 6 und schafft rund alle zwei Jahre, alters–, aber auch erfahrungsmäßig, den Aufstieg zur nächsten Stufe. Angefangen hat alles im Kindergarten, als man dort aktiv für die Jugendorganisation geworben hat und Marion leicht zu überzeugen wusste.

Marion und Eliise

Und wie ist die Jugendorganisation aufgebaut? Prinzipiell hat jeder Kreis eine eigene Gruppe. So wie der Kreis Lääne, wo ich mich gerade befinde. Dort sind etwa 100 Mädchen und 100 Burschen bei der Organisation.

Was man dort lernt? Estnische Geschichte, Outdoor-Skills, aber auch wie Helina sagt, ein guter Mensch zu werden und das Zusammenleben in Gruppen. Gruppenleiter Taavi lehrt ihnen aber auch wie man Fensterglas repariert oder das Öl im Rasenmäher wechselt. Fähigkeiten, die man auch im Alltag gut gebrauchen kann.

Helina

Klingt doch eigentlich alles toll, aber was ist mit den Waffen? Googelt man die Jugendorganisation der Kaitseliit stößt man schnell mal auf Pfadfinder mit Waffenfimmel, wie es scheint. Ersten sind das keine echten Waffen, sondern Airsoft Pistolen und zweitens muss niemand mitmachen, wenn er/sie nicht möchte, antwortet Helina. Und richtige Waffen bekommen die Minderjährigen sowieso nicht, da dies gegen das Gesetz verstoßen würde. Und was ist mit anderen Gruppen aus anderen Landkreisen? Durch das sechstufige Levelsystem, wo man so viel andere Dinge lernen muss, bleibt gar keine Zeit sich rein auf das Militärische zu fokussieren, meint Helina. Und sieht man Bilder von Jugendlichen mit Waffen, wird das meist aus dem Kontext gerissen. Denn eine Airsoft Pistole schaue einer echten Waffe verblüffend ähnlich. Artur und Rander (beide 15) hingegen wollen beide zum Militär. Dies habe aber nichts mit Russland zu tun, meinen die beiden Burschen, sondern wegen der Waffen. In Estland herrscht die Wehrpflicht und dauert acht oder elf Monate. Annabel (16) denkt nicht, dass sie sich frewillig fürs Militär verpflichten wird. Freundinnen vor ihr ziehen diesen Schritt jedoch in Erwägung. Russland scheint hier nicht der ausschlaggebende Grund dafür zu sein, auch wenn die Unsicherheit täglich mitschwingt.

Und warum landet man als Gruppenleiter bei den Noored Kotkad(“Junge Adler”)? Gruppenleiter Taavi meint scherzend, weil er nicht wusste, wie er Nein sagen konnte. Ein Freund brachte die Papiere vorbei und der heutige Gruppenleiter im Kreis Lääne unterschrieb. Das ist zehn Jahre her und Taavi bereut es bis heute nicht.

Gruppenleiter Taavi










Florian Sulzer

Florian Sulzer ist ein freier Fotojournalist. Er arbeitet zwischen Wien und Graz.

https://www.floriansulzer.com/
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