Tag 4: Abschluss in Warschau
Nach einem letzten Abend in Białystok, machen wir uns in der Früh auf den Weg nach Warschau, wo wir um 17 Uhr die W-Stunde miterleben wollen, das Gedenken an den Beginn des Warschauer Aufstands am 1. August 1944, also vor genau 81 Jahren.
Davor haben wir noch ein Interview mit dem Sprecher der militärischen Rekrutierungsstellen Polens. Eigentlich wollten wir einfach eine der Rekrutierungsstellen in Podlachien vor Ort besuchen, um dort mit den Menschen direkt über ihre Erfahrungen und Sichtweisen zu sprechen. Doch dieser Zugang wurde uns nicht gestattet.
Die Centralne Wojskowe Centrum Rekrutacji (CWCR) liegt am Gelände der Zitadelle Warschau. Die Festung wurde im 19. Jahrhundert von Zar Nikolaus I. als Bollwerk gegen polnische Unabhängigkeitsbestrebungen errichtet. Denn Polen war zu diesem Zeitpunkt zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt. Als es 1918 endlich seine zweite Republik ausrufen konnte, hatte Polen 123 Jahre lang als Staat nicht existiert.
Wir fahren in den heute noch militärisch genutzten Teil der Zitadelle ein (es gibt dort auch mehrere Museen, unter anderem das Museum der polnischen Geschichte). Am Weg zur Registrierung, wo wir unsere Besucherausweise erhalten, sehen wir einen Veteranen des Warschauer Aufstands sitzen, der bereits die später stattfindenden Gedenkfeierlichkeiten zu erwarten scheint. Der Mann trägt eine der typischen, aus der Not heraus improvisierten Uniformen der polnischen Heimatarmee; auf dem Haupt ein grünes Barett und um den Arm die weiß-rote Binde mit der Kotwica darauf, dem Symbol des Aufstands.
Viele der Kämpfer*innen des Warschauer Aufstands gegen die deutsche Besatzungsmacht waren zum Großteil noch sehr jung, viele davon Kinder - was auch ein Grund dafür ist, dass relativ viele Veteran*innen heute noch am Leben sind. Auf den Plakaten, die den Gedenktag ankündigen, und über die ganze Stadt zu sehen sind, lächelt uns ein etwa 12-jähriger Bub mit einem lässig um die Schulter geschwungenem Gewehr entgegen. Es ist diese Art von Ikonografie, die mich auch besser begreifen lässt, warum die im letzten Jahr an Oberstufen in Schulen eingeführten verpflichtenden Schießübungen (mit Laserpatronen) hier eigentlich kaum jemanden mit der Wimper zucken lassen. Bilder, die in Österreich ein reflexhaftes Unbehagen auslösen könnten, sind in Polen Teil des nationalen Selbstverständnisses.
Nach dem Interview mit dem WCWR-Sprecher, fahren wir ins Hotel, von wo aus wir einen tollen Blick auf den Kulturpalast haben, aber auch, und das ist heute wichtiger, auf den Rondo Romana Dmowskiego. Das ist nämlich der zentral gelegene Verkehrsknotenpunkt, wo sich die Menschen aus Warschau und viele andere, die heute aus ganz Polen angereist sind, um 17 Uhr treffen, um eine Minute lang kollektiv zu schweigen.
Nach der W-Stunde wollen wir noch zum Bulwary wiślane, sozusagen dem „Donaukanal“ an der Weichsel, wo die jungen Leute abhängen, um wieder Gespräche mit ihnen zu führen. Doch wir brauchen viel länger als gedacht, weil wir am Weg durch die Altstadt beginnen ständig Umwege zu machen. Überall gibt es nämlich Denkmäler und Erinnerungsorte, an denen Kerzen hingestellt und Blumen abgelegt werden - nicht etwa von offiziellen Stellen oder Organisationen, sondern die einzelnen Menschen selbst sind es, die heute ihr persönliches Gedenken zum Ausdruck bringen wollen.
AM ENDE MEINER REISE bin ich erstaunt, wie bereichernd die Recherche vor Ort tatsächlich war, um mein Thema auch emotional besser verstehen zu können. Ich habe mich in diesen Blogeinträgen mit größeren in der Recherche gewonnenen Erkenntnissen und Informationen eher zurückgehalten, weil ich das ja alles dann erst in meinen Artikel hineinpacken will.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das mit der Sprachbarriere wieder machen würde. Es war schon sehr schwierig Interviews zu führen, wenn ich kein vollständiges Gefühl der Person gegenüber entwickeln, keinen „Vibe“ spüren kann. Auch Nachfragen, Nachhaken ist viel schwieriger, wenn ich immer erst die Übersetzung abwarten muss. Wir können in der Europäischen Union zwar in Vielfalt geeint sein, aber fällt die lingua franca weg, steht man sich ziemlich fremd und sprachlos gegenüber.
Am Denkmal des Warschauer Aufstandes wurden Kerzen angezündet und Kränze abgelegt.