„Wir erleben eine gefährliche Polarisierung“
Er ist 24 Jahre alt, spricht Russisch und Lettisch – und ist der Kopf einer Bewegung, die es in Lettland so noch nie gab. Martin Levuškāns, Gründer der NGO „Russian Voice for Latvia“, steht für ein neues Selbstverständnis innerhalb der russischsprachigen Minderheit: pro-europäisch, liberal, offen – und entschieden gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.
„Wir sind die erste NGO in Lettland, die offen von russischsprachigen Bürgern gegründet wurde und gleichzeitig klar gegen das Regime in Moskau auftritt“, erklärt Levuškāns im Gespräch mit der Krone. Die Organisation entstand unmittelbar nach Kriegsbeginn 2022.
In Lettland lebt rund ein Viertel der Bevölkerung russischsprachig – viele von ihnen stammen aus Familien, die nach der sowjetischen Besatzung ins Land kamen. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde der Druck auf diese Gruppe größer: Loyalitätsfragen, Sprachkonflikte, Ausgrenzung – all das ist Teil eines Alltags, der zwischen Identität und Misstrauen pendelt.
„Wir erleben eine gefährliche Polarisierung“, sagt Levuškāns. „Viele Russischsprachige fühlen sich politisch heimatlos. Gleichzeitig fürchten viele Letten, dass diese Gruppe eine ‚fünfte Kolonne‘ Putins sein könnte.“ Dazwischen versucht seine NGO, Dialogräume zu öffnen – mit Bildungsarbeit, Social-Media-Kampagnen und politischen Analysen.
Ein zentrales Thema: Desinformation unter russischsprachigen Jugendlichen. Laut einem NGO-Bericht nutzen inzwischen über 54 % der jungen russischsprachigen Letten TikTok als Hauptinformationsquelle. Dort dominieren Influencer mit klar prorussischer Agenda – subtil verpackt, emotional aufgeladen.
„Der Kreml hat längst erkannt, dass die Info-Front nicht mehr im Fernsehen liegt, sondern auf Social Media“, warnt Levuškāns. Besonders problematisch sei, dass viele öffentliche Medien auf Russisch in Lettland eingestellt oder stark eingeschränkt wurden – darunter auch staatsfinanzierte Nachrichtenformate.
„Wenn wir den jungen Leuten kein glaubwürdiges, russischsprachiges Gegennarrativ bieten, verlieren wir sie an die Propaganda“, so der NGO-Chef.
Seine NGO will das ändern – mit Aufklärung, Medienprojekten und Begegnungen. Besonders wichtig ist dabei: Zweisprachigkeit. In Videos und Interviews übersetzt „Russian Voice for Latvia“ Inhalte von russisch- und lettischsprachigen Persönlichkeiten – und bringt so beide Gruppen miteinander ins Gespräch.
Einen weiteren Brennpunkt sieht die NGO in der Sprach- und Bildungspolitik. Lettland stellt derzeit schrittweise alle Schulen auf ausschließlich lettischsprachigen Unterricht um. Levuškāns selbst ist ein Beispiel dafür, dass Integration gelingen kann – aber: „Die Art und Weise, wie diese Reform durchgezogen wird, ist problematisch. Es fehlt an Personal, an pädagogischer Sensibilität – und manchmal an Respekt gegenüber der Muttersprache.“
Er warnt: „Wer die russische Sprache komplett aus den Schulen drängt, provoziert Identitätskonflikte – und spielt den Radikalen in die Hände.“
Martin wurde in Sibirien geboren, seine Familie kehrte nach Lettland zurück – sie ist ethnisch lettisch, sprachlich russisch. „Ich war immer beides – russischsprachig und Lette. Aber seit dem Krieg verlangt man plötzlich, dass man sich entscheiden muss.“
Martins Levuškāns gehört zu den Initiatoren der NGO "Russian Voice for Latvia"