Tag 3: Die Stadt der vielen Sprachen und Kanonenkugeln
Wer eine Hauptstadt besucht, kommt um einen Tag mit klassischem Touri-Programm nicht herum. Heute begleite ich gleich zwei Free Walking Tours quer durch Bratislava. Zuerst bringt mich Guide Michal an die Orte, die die bewegte Vergangenheit der Slowaken im 20. Jahrhundert versinnbildlichen, danach führt mich Roman zu den Sehenswürdigkeiten der Altstadt.
Die heutige Slowakei entstand als eigenständiger Staat erst 1993. Die Zeit davor war geprägt von Unterdrückung, Regimewechsel und schmerzhaften Trennungen. Heute sind die Slowaken stolz auf ihr Land, eine gewisse Skepsis und Wachsamkeit ist aber geblieben. Roman meint, hier regt sich jeder über alles auf, aber vor allem über Leute, die sich aufregen. Als Wiener Grantler verstehen wir uns sofort auf Anhieb.
Der heutige Blogbeitrag soll aber keinesfalls zu einer Aufzählung der Sehenswürdigkeiten der Stadt verkommen. Ich möchte eher die weniger bekannten und kurioseren Geschichten erzählen, die Lonely Planet und Co. ausblenden würden.
Zuerst zum Namen der Stadt. Dafür muss ich leider ein wenig ausholen: Jahrhundertelang war Bratislava ein Schmelztiegel unterschiedlicher Ethnien, Sprachen und Religionen. Beeinflusst von den Habsburgern und Ungarn lebten hier bis zum zweiten Weltkrieg slowakisch-, deutsch- und ungarischsprachige Menschen friedlich zusammen. Die meisten beherrschten sogar alle drei Sprachen gleichzeitig. Die deutsche Bezeichnung Pressburg und der ungarische Name Pozsony werden bis heute verwendet. Als Symbol der Befreiung von der über 1000-jährigen Unterdrückung legte man nach Entstehung des tschechoslowakischen Staates 1918 den eigentlichen slowakischen Namen Prešporok ab. Ein neuer Name musste her. Die Idee, die Stadt nach dem letzten slowakischen König Vrartislav zu benennen, ging etwas schief: Der Schreibfehler eines Historikers führte vermutlich zum heutigen Namen Bratislava.
Die Schilder dieser Apotheke in drei Sprachen sollen zeigen, dass hier jeder willkommen ist.
Ein besonders dunkles Kapitel ist die Geschichte der Juden von Bratislava. Etwa 70.000 slowakische Jüdinnen und Juden kamen im Holocaust ums Leben. Das jüdische Viertel unterhalb der Burg blieb zwar vorübergehend bestehen. Die Häuser riss sich jedoch die verbleibende Bevölkerung unter den Nagel. Besonders bizarr ist der Umstand, dass die größte Synagoge der Stadt den Holocaust überdauerte, aber nicht den Kommunismus. Mit dem Argument der notwendigen Modernisierung demolierte man trotz vehementer Proteste der jüdischen Gemeinde das gesamte Viertel samt Synagoge. Stattdessen wurde die Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes mit dem markanten UFO-Turm gebaut sowie eine vierspurige Straße ins Zentrum. Inzwischen sind mehr als 50 Jahre vergangen und diese Wunde der Stadt, die weiterhin aufklafft, wurde niemals geschlossen. Bezeichnenderweise sei der UFO-Turm samt Restaurant laut Roman die letzten zehn Jahre in Folge zur Top-Touristenfalle der Slowakei gewählt worden. Ich verzichte daher auf einen Besuch. Einen tollen Blick auf die Stadt findet man auch an anderen Orten.
Nur der Martinsdom überlebte den Sozialismus, die Synagoge musste weichen. Im Hintergrund schwebt das UFO als hätte es hier einfach ein Viertel weggelasert.
Eine etwas amüsantere Geschichte ist die folgende: In Bratislava findet man in einigen Hausmauern Kanonenkugeln, die teilweise Überbleibsel von Steuerbetrügen sind. Wie das? Als Napoleon bei seiner Eroberung die Stadt zerstörte und im Anschluss nach Russland weiterzog, konnte sich die Stadt den Wiederaufbau nicht leisten. Unmut machte sich in der Bevölkerung breit. Um die Situation unter Kontrolle zu bringen und die Menschen zu veranlassen, ihre Häuser eigenhändig wiederaufzubauen, gewährte man jeder Familie, deren Haus betroffen war, zwei Jahre lang den Erlass sämtlicher Steuern. Doch die scheinbar geniale Idee ging nach hinten los. Die Leute schnappten sich die herumliegenden Kanonenkugeln und beförderten sie in die unversehrten Mauern, um auch in den Genuss dieser Steuerbegünstigung zu kommen.
Diese und noch viele andere Geschichten erzählt mir Roman, der uns hervorragend durch die Stadt geführt hat. Bevor wir uns verabschieden, unterhalten wir uns noch über den Arbeitsmarkt und die Politik in der Slowakei. Zum Abschluss dieses ausgiebigen und bei über 30 Grad auch körperlich fordernden Tag, genieße ich noch zu einem Cappuccino ein traditionelles „Pressburger Kipferl“. Diese süßen, mit Eigelb bestrichenen Spezialitäten inklusive Walnuss-, Mohn- oder Marzipanfüllung hab ich noch nirgendwo anders gesehen und schmecken hervorragend!
Nur wer ein Pressburger Kipferl gekostet hat, war wirklich in Bratislava!
Bevor ich mich hinsetze und diesen Blog schreibe, schüttle ich der Statue von Hans Christian Andersen am Hviezdoslav-Platz noch die Hand. Denn das soll Schriftsteller:innen und Journalist:innen Inspiration schenken. Händewaschen gehe ich danach trotzdem. Hoffentlich bringt das kein Unglück!
Sind die Hände groß, werden es die Fußstapfen wohl auch sein.