Deutschland, Tag 1: Gestrandet, weit vor der Küste

Kiel, das kalte Herz der deutschen Seefahrerkultur.

von Johannes Arends

Die Geschichte meiner Eurotours-Reise beginnt mit einer Szene, so erwartbar und so dermaßen klischeebehaftet, dass es fast schon langweilig ist, sie zu erzählen.

Aber sie ist wirklich so passiert.

Da stehe ich also, für meine Verhältnisse top vorbereitet, ein Franzbrötchen und einen gewaltigen Cappuccino (Hafermilch) intus, mit beiden Händen je einen Koffer führend, am Hamburger Hauptbahnhof und warte auf einen Zug, der niemals kommen wird. Das dämmert mir erstmals, als ich den Neun-Uhr-ICE nach Kiel nicht auf dem Zeitplan finde. Dabei sollte darin doch ein reservierter Sitzplatz auf mich warten. Jetzt erst halte ich es für eine gute Idee, die App der Deutschen Bahn herunterzuladen. Als ich mich einlogge, muss ich lachen. Der Zug ist nicht verspätet - er ist ersatzlos ausgefallen.

Wie arrogant ich doch war. “Mich wird es schon nicht treffen”, hatte ich gedacht, als ich vor einer Woche das Ticket gebucht hatte. Mich, den Vielgereisten, der gerade erst ein Monat lang tausende Kilometer in Schnellzügen quer durch China zurückgelegt hatte. Doch vor der Deutschen Bahn sind wir alle gleich.

So ein Vormittag auf dem Bahnsteig hat etwas Erdendes. Er schafft Solidarität, mit all den armen Deutschen, die bereits unter ihrer maroden Infrastruktur gelitten haben. Vielleicht ist das ja diese emotionale Nähe, die es für gute Reportagen braucht.

Eine Gruppe Männer fischt am Hafen der deutschen Stadt Kiel, im Hintergrund ist ein riesiges Kreuzfahrtschiff zu sehen.

Seebären beim Angeln in freier Wildbahn. Dahinter ein Stahlkoloss, der jedes Gebäude überragt.

Gute fünf Stunden später sitze ich in Kiel in einem Strandkorb und friere mein Bier an. Die lange Anreise im Regionalexpress, mit einer Klasse 14-Jähriger im Abteil, sie war mein Kreuzweg. Nun bin ich auferstanden.

Vor mir angelt eine Gruppe norddeutscher Seebären im Ostseehafen, um den die Stadt im Halbkreis angelegt ist. Kiel ist klein, schön und wohlhabend, voller Ziegelhäuser (hier sagen sie Backstein) und schicker Geschäfte. Aber es ist auch kalt. Mit diesem feuchten, eisigen Wind, der seine Finger an jeden Nacken legt, der von keinem Schal bedeckt ist. Trotzdem baden ein paar Leute im Wasser.

Wer an Deutschland denkt, denkt nicht automatisch an Seefahrerkultur. Doch hier, in Kiel, leben alle Menschen vom Meer: Sie bewirtschaften es (Fischerboote), befahren es (Fähren), studieren es (Schiffbau, Ozeanforschung) oder schützen es - Kiel ist schließlich der Hauptstützpunkt der deutschen Marine, die durch die von Ex-Kanzler Olaf Scholz ausgerufene “Zeitenwende” mit mehreren hundert Millionen Euro aufgerüstet werden soll. In den nächsten Jahren wird sich also auch die Hafenstadt stark verändern.

Wie genau, das lasse ich mir morgen im Marine-Hauptquartier erzählen. Von jenem Pressestabsoffizier, der jede Mail mit “Ahoi und Servus” beginnt und mit “maritimen Grüßen” beendet. Ich mag ihn jetzt schon. Ob er mir den Anreisetag bewusst frei gehalten hat?

P.S.: Freunde habe ich auch schon gefunden!

Schnorrer inflagranti

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