Estland, Tag 1: Auf alten Spuren

von Florian Sulzer

Genau acht Jahre ist es her, dass ich zuletzt in der estnischen Hauptstadt Tallinn war. Damals nutzten wir die letzten Tage der Semesterferien auf der Universität, schnappten uns ein Auto und fuhren zu dritt spontan ins Baltikum. Alexander, Philipp und ich waren (und sind) Freunde aus Schultagen.
Natürlich habe ich ihnen auch ein Bild aus Estland in unsere gemeinsame, wenn auch sehr inaktive, Signal-Gruppe geschickt. “LG aus Estland - auch schon wieder 8 Jahre her (…), aber musste an euch denken.”
Jedoch verbringe ich meine Tage in Estland nicht, um alte Geschichten aufzuwärmen oder ein Tourist in meiner eigenen Jugend zu sein. Ich bin hier (dank eurotours), um ein Wochenende mit den Jugendorganisationen – Noored Kotkad (Junge Adler) und Kodutütred (Heimattöchter) der Kaitseliit (ein estnischer militärischer Freiwilligenverbund, der im Kriegsfall mobilisiert werden kann) in Aktion zu verbringen, aber dazu mehr ab morgen.


Die Tage vor meiner Recherche habe ich genutzt, um mich mit mit dem Land besser vertraut zu machen. Ich lieh mir ein Auto am Tallinner Flughafen und machte eine Rundreise durchs Land. Von Tallinn ging es an die Küstenstadt Pärnu, angeblich Estland Sommerhauptstadt, aber das lässt sich Ende September in der gefühlten Off-Season kaum noch beurteilen. Auf Pärnu folgte ein Abstecher nach Tartu, Kulturhauptstadt Europas 2024 und Studierendenstadt. Je weiter östlich ich in Estland komme, desto mehr merke ich, dass ich meine spärlichen Russischkenntnisse (der A1-Sprachkurs liegt immerhin schon ein paar Jahre zurück) aufbessern hätte sollen. Am Peipussee, eines der größten Binnengewässer Europas, war Russland plötzlich sehr präsent. Durch den See verläuft die Grenze zwischen Europa und Russland. Man sieht die russische Staatsgrenze zwar nicht, hört die Landessprache aber teilweise, als Hintergrundmusik in einem Restaurant in Kolkja.

Sonnenuntergang am Peipussee nahe der Ortschaft Nina. Hinter dem Horizont befindet sich Russland.

Spätestens in der Stadt Narva, in der rund 95% der Bevölkerung der russischen Minderheit Estlands angehört, fühlt man die Nähe Russlands. Der gleichnamige Fluss Narva bildet die Grenze zwischen Europa und Russland. Ich frage mich, wie viele Menschen, so wie ich, hierher kommen, um nur einen Blick auf Russland zu werfen und danach wieder weiterfahren. Die Stadt wird mir nicht in Erinnerung bleiben, jedoch vielleich das kaum beschreibbare Unbehagen entlang des Grenzflusses zu spazieren. Die Fahne der EU, Estlands und die der Nato auf der einen, die russische Flagge auf der anderen Seite.

Blick auf die Festung Iwangorod, Russland. (Bild mit dem iPhone, Kamera im Auto vergessen.)

Am vorletzten Tag meiner Reise vor dem Wochenende mit der Kaitseliit-Jugend, habe ich mich doch noch daran gemacht, Orte aus meiner ersten Estland Reise 2017 aufzusuchen. Ich war in Hara und habe den ehemaligen geheimen U-Boot-Hafen der Sowjets besucht. Das Wasser ist so Quallen verseucht wie damals. Der Tourismus ist auch hier angekommen – mittlerweile ist der marode Hafen ein Museum und kostet 10€ Eintritt. Der Verfall schreitet voran, jedoch zieren ein paar Infotaferl und Bilder von damals das Gelände. Viel hat sich sonst nicht verändert. Ich schicke ein Bild in unsere Signal-Gruppe. Als ich in Tallinn ankomme, lese ich Philipps Antwort im Chat: ein Bild von damals von drei Fischern, die auf dem maroden Betonhafen sitzen. Dazu eine Nachricht: “Hast die Fischer wieder gesehen?” “Nein, niemand war da”, antworte ich. “Verstehe ich bei diesen Wucherpreisen”, antwortet er.

Der ehemalige U-Boot Stützpunkt im Hafen von Hara im Nationalpark Lahemaa.



Florian Sulzer

Florian Sulzer ist ein freier Fotojournalist. Er arbeitet zwischen Wien und Graz.

https://www.floriansulzer.com/
Weiter
Weiter

Korsika, Tag 4: Kämpfen, um Leben zu retten