“Ich spüre in Lettland keine Angst vor einem Krieg”
Trotz der geografischen Nähe zu Russland und Belarus herrscht in Lettland keine unmittelbare Kriegsangst – aber eine wachsame Nervosität ist spürbar. Im Interview spricht Österreichs Botschafterin Bernadette Klösch über Lettlands sicherheitspolitische Lage, die Rückkehr der Wehrpflicht, den Wunsch nach Zugehörigkeit zum Norden unter dem Label „New Nordics“ – und warum Österreich vor Ort keine eigene Botschaft mehr hat.
Mit Putin als Nachbarn herrscht die Angst vor einem Angriff in Lettland. Wie nehmen Sie die Stimmung in Lettland wahr?
Ich spüre in Lettland keine Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden territorialen Angriff auf das Land. Als EU- und NATO-Mitglied fühlt sich Lettland relativ sicher und gut verteidigt. Aber eine gewisse Nervosität ist dennoch spürbar und die Unterstützung für die Ukraine wird auch als Investition in die eigene Verteidigung gesehen. Im Gegensatz zu anderen EU-Ländern hat Lettland mit Russland und Belarus als Nachbarn den Konflikt praktisch vor der eigenen Haustüre und hybride Angriffe auf die Unterwasserinfrastruktur in der Ostsee gibt es zum Beispiel schon jetzt, genauso wie irreguläre Migration von Belarus nach Lettland als Versuch das Land zu destabilisieren.
Lettland will sich immer mehr von Osteuropa distanzieren und vermeidet auch den Begriff. Immer wieder kommt stattdessen der Terminus „New Nordics“ vor. Gelingt Ihrer Meinung nach die Anlehnung an den Norden?
Lettland und die beiden anderen baltischen Staaten orientieren sich traditionell immer schon sehr stark am Norden und identifizieren sich mit den nordischen Partnerstaaten. Im politischen Bereich gibt es sehr viele nordisch-baltische Kooperationsformate (NB6 oder NB8) mit Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark und Island. In Riga spüre ich den Einfluss von Schweden und Finnland besonders stark, nicht nur durch eine starke Präsenz von IKEA. Viele schwedische und finnische Firmen sind in Lettland wirtschaftlich aktiv und erfolgreich und skandinavisches Design wird hier hochgeschätzt.
Wird der Begriff „New Nordics“ mehr von der jungen Bevölkerung verwendet?
In der Alltagssprache wird der Begriff kaum verwendet, er ist eher gebräuchlich bei Debatten über die lettische Identität oder um die baltischen Länder als wachstumsorientierte, digital-affine Volkswirtschaften zu beschreiben.
Botschafterin Bernadette Klösch, Fotocredit: BMEIA/Michael Gruber
Mit welchen Herausforderungen müssen sich die lettischen PolitikerInnen derzeit auseinandersetzen?
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist in der Politik omnipräsent. Sicherheit und Verteidigung sind für die lettischen Politikerinnen und Politiker ein Dauerthema. Lettland ist auch wirtschaftlich stark unter Druck. Das Wirtschaftswachstum ist auch als Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine eher gering und man spürt eine gewisse Zurückhaltung von Unternehmen, in Lettland bzw. generell in den baltischen Staaten zu investieren. Dabei ist Lettland für Tech-Start-ups und für Firmen im Bereich erneuerbare Energien durchaus interessant. Darüber hinaus kämpft Lettland immer noch mit Abwanderung und niedrigen Geburtenraten. In den frühen 1990er Jahren hatte Lettland ca. 2,7 Mio. Einwohner, heute nur mehr 1,8 Mio. Jeder vierte Lette lebt heute im Ausland.
Der Wehrdienst wurde wieder eingeführt. Wie ist das bei der Bevölkerung angekommen? Vor allem bei jungen Männern?
Die Rückkehr zur Wehrpflicht in Lettland wurde nicht von allen mit Begeisterung aufgenommen, aber sie trifft auf wachsende Unterstützung, gerade unter jungen Menschen. Viele sehen heute klarer, was auf dem Spiel steht. Die Sicherheitslage in Europa hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Es geht ja nicht nur ums Marschieren, sondern um Verantwortung, Teamgeist und echte Vorbereitung auf Krisensituationen. Die moderne Wehrpflicht ist ja längst mehr als das Klischee von Militärdrill und wird von der Jugend auch genutzt, um sich weiterzubilden und neue Fähigkeiten zu erwerben, Stichwort Cyberabwehr.
Merken Sie, dass durch den drohenden Krieg, Patriotismus eine größere Rolle spielt?
Die Letten und Lettinnen sind sehr stolz auf ihr Land und auf seine Unabhängigkeit. Aber sie kennen auch ihre Geschichte und erinnern sich an die lange Besatzungszeit durch die Russen. Das Freiheitsdenkmal im Zentrum der Altstadt von Riga spielt eine zentrale Rolle bei allen Feierlichkeiten in Lettland und auch der Gebrauch der lettischen Sprache durch alle Letten und Lettinnen (ca. 35 % der Bevölkerung hat Russisch als Muttersprache) ist vielen sehr wichtig.
Was unterscheidet Ihrer Meinung nach die lettische Jugend von der österreichischen?
Die lettische Jugend ist meiner Meinung nach patriotischer und traditionsverbundener als die österreichische. Beim diesjährigen XIII. lettischen Gesangs- und Tanzfestival der Schuljugend haben praktisch alle Jugendlichen mitgemacht. Die Chor- und Volkstanztradition mit den dazugehörigen Trachten ist für alle Letten und Lettinnen sehr wichtig und ein Teil ihrer nationalen Identität. Bei diesen Festivals ist praktisch ganz Lettland auf den Beinen und man spürt die Begeisterung aller. Sonst sehe ich keine großen Unterschiede. Die lettische Jugend ist genauso weltoffen und interessiert wie die österreichische. Und alle feiern gerne!
Wieso sitzt die österreichische Botschafterin für Lettland nicht in Riga?
Ja, diese Frage wird mir öfter gestellt. Das Außenministerium hat aufgrund von Sparzwängen 2016 die Botschaft in Lettland geschlossen. Seit 2018 wird Lettland von einer bzw. einem nicht residenten Botschafterin/Botschafter von Wien aus betreut. Das gleiche Modell haben wir übrigens auch für Litauen, Malta, Liechtenstein und Usbekistan. Wir haben aber in Riga einen sehr aktiven Handelsdelegierten im Außenwirtschaftscenter Riga (betreut von Riga aus alle 3 baltischen Staaten) und auch eine lokale Mitarbeiterin des BMEIA, die mich bei der Botschaftsarbeit unterstützen. Außerdem gibt es auch einen sehr aktiven Honorarkonsul in Riga, der sich um österreichische Anliegen kümmert. Der Verteidigungsattaché der Botschaft sitzt in Warschau und der Konsul betreut die konsularischen Agenden von Stockholm aus. Wir haben also ein sehr aktives, verstreutes Team Austria, das sich gemeinsam mit mir für die lettisch-österreichischen Beziehungen einsetzt.