Kosovo, Tag 5: Queer im Krieg

Wer bin ich, wenn ich nicht bin wie die anderen?
Eine Frage, die sich queere Personen, also jene, die sich nicht dem heteronormativen Stereotyp zugehörig fühlen, oft stellen müssen. Spätestens in der Pubertät merken junge Menschen, dass sie sich vom gleichen Geschlecht angezogen fühlen oder sonst in irgendeiner Form nicht als „straight“ fühlen. In der heutigen Zeit hat sich das, zumindest im Westen, in wesentlichen Teilen normalisiert. Zum Glück. Auf jene, die ihren persönlichen Horizont irgendwo hinter einem anderen Planeten gefunden haben, braucht nicht weiter eingegangen zu werden.

Was aber, wenn man mitten im Kosovokrieg aufgewachsen ist? Da, als die Frage der regionalen Zugehörigkeit, der nationalen Identität, im Vordergrund stand?

Im Zuge des „Prishtina Queer Festivals“ findet die Diskussion „Queer Resilience during the Kosovo War“ im Reporting House statt.

Das Reporting House ist ein moderner Begegnungsort im Zentrum Pristinas, gebaut wie eine Mischung aus Presseclub, Kulturzentrum und Wohnzimmer in ein altes, kahles Kaufhaus. Bereits mit dem ersten Schritt in das Gebäude, wird man sofort von Flimmern und Stimmen empfangen – zahlreiche aufgezeichnete Fernsehberichte flackern in Dauerschleife über Bildschirme und erinnern an die Jahre von 1992 bis 1999, vom friedlichen Protest bis zur NATO-Bombardierung, berichtet von Journalist:innen aus aller Welt. Eine neuere Installation lässt 500 Kristalle aus der Trepça-Mine von der Decke hängen, Rohsteine, die tief aus den Schächten des Nordens stammen. Sie glitzern im Licht wie gefrorene Tropfen Zeit und verbinden die Geschichte des Krieges mit der Geschichte der Erde – ein Symbol für das, was in diesem Land unter der Oberfläche liegt. Umgeben davon – Fotografien, Zeichnungen, multimediale Installationen – kollidieren künstlerische Eindrücke mit den rohen Fakten des Krieges. Wohl kein zufällig gewählter Ort für das, was folgen sollte.

Diskussion “Queer Resilience during the Kosovo War” im Reporting House

Bevor die Diskussion losgehen kann, spricht Dan Sokoli, der die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas mitbetreut hat und nun präsentiert. Er berichtet von Interviews, die mit queeren Personen geführt wurden, und er erzählt, dass zur Schaffung eines Safe Spaces nur queere Forscher:innen mit queeren Interviewpartner:innen sprechen durften. Zwei Befragte holt er als Beispiel hervor:

Labinoti, m, 43 Jahre, und Blerimi, m, 49 Jahre – anhand dieser beiden Protagonisten wird das Erlebte erzählt. Labinoti wird mit verschiedenen Bildern seiner persönlichen Entwicklung gezeigt, Blerimi lebt mit einer Frau und möchte anonym bleiben. Es sind vor allem Geschichten der Selbsterforschung. Wie weißt du, wer du bist, wenn du kein Internet hast, wenn der Zugang zu Nachrichten eingeschränkt ist und wenn du das internationale Nachrichtenangebot gar nicht kennst? Du erkennst, dass du queer bist, aber du kennst den Begriff nicht, genauso wenig wie schwul, lesbisch, bi. Du kannst es nicht benennen, weil niemand die Begriffe kennt oder verwendet.

Labinoti aber berichtet von seinem Moment der Erlösung. Ausgerechnet George Michael, jener Sänger, der trotz seines Ablebens mit „Last Christmas“ ab Ende November Radiostationen auf der ganzen Welt lahmlegt, ist der Grund, warum ein heute 43-jähriger Mann lernen durfte, wie man seine Sexualität betitelt. Das Coming-out des Sängers erreichte auch Nachrichtenstationen im Kosovo und wurde über das Radio verbreitet, bis zu Labinoti, der durch diese Sichtbarkeit endlich erkennen durfte, dass er nicht alleine ist.

Nach 50 Minuten kommt der Abschluss des spannenden, aber doch sehr monoton gehaltenen Vortrags: der Appell der Protagonisten an die Jugend: „Sei immer du selbst und habe keine Angst zu zeigen, wer du bist“, „Lüge nicht darüber, wer du bist“ und „Jede Herausforderung ist eine Möglichkeit zu lernen.“ Es sind schöne Worte, wenngleich sie auch von meinem Abrisskalender stammen könnten, und irgendwo empfinde ich es als irritierend, dass einer jener Männer, von dem sie stammen sollen, mit einer Frau lebt und ihr gegenüber (laut eigenen Angaben) seine Sexualität geheim hält. Dennoch, sie sind sicherlich bewusst gewählt und platziert, um die vielen jungen Menschen im Raum zu adressieren. Wobei ich mir nicht sicher bin, wie viele hier im Kosovo leben, denn mehr als die Hälfte ist auf englische Simultanübersetzung über Headsets angewiesen (so auch ich).

Im Anschluss spricht Dafina Halili, eine Journalistin, die vor allem zu historischem Kontext recherchiert und zu diesen Themen berichtet. Sie erzählt von Erlebnissen, Gesprächen und Herangehensweisen. Eine wirkliche Diskussion mit ihrem Vorredner entsteht freilich nicht, aber dennoch eine seichte Variante eines Kamingesprächs. Der Ausklang bietet mir Zeit und Raum für vertrauliche Gespräche mit queeren Personen und damit die Möglichkeit, mehr über sie und das Leben in Pristina zu erfahren.

Plakat des “Prishtina Queer Festivals” auf einem Betonpfeiler im Stadtzentrum

DANKE!

Fünf Tage Kosovo, gefüllt mit Begegnungen, Geschichten und Eindrücken, die mich zwischen Euphorie und Nachdenklichkeit pendeln ließen. Was bleibt, ist das Gefühl, dass dieses Land ein Mosaik ist: voller Brüche und Narben, aber auch voller Hoffnung, Mut und einer Jugend, die ihre Zukunft gestalten will, die bereit ist jene Brücken zu bauen, auf die Generationen zuvor gehofft hatten. Für mich endet hier eine Reise – was ich gesehen und gehört habe, zeichnet kein fertiges Bild, sondern einen Prozess. Die Ergebnisse daraus werden hoffentlich bald zu lesen und zu sehen sein.


INFOBLOG:

Reporting House: https://kallxo.com/reporting_house/

Prishtina Queer Festival (Instagram): https://www.instagram.com/prishtinaqueerfestival/?hl=de

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Tag 4: Kosovo, ein Vorzeigebeispiel?