Kroatien, Tag 2: Zwischen Gehen und Bleiben

Heute treffe ich Ewa Lovrenović. Sie zeigt mir die Stadt und erzählt mir dabei von ihrer spannenden Geschichte. Sie kam 2021 nach Split, da die Pandemie sie aus ihrem Orchesterleben in Deutschland nach Kroatien führte. „Es gab eine freie Stelle an der Oper, ich habe den Bewerbungsprozess erfolgreich durchlaufen. So bin ich durch Zufall hier gelandet.“ Tatsächlich ist sie, wie sie es nennt, eine „Papier-Kroatin“: Ihr Pass ist kroatisch, das Gefühl jedoch nicht. „Ich habe mich früher nie als Kroatin wahrgenommen oder gefühlt. Ich war sogar eher auf Identitätssuche.“ Aufgewachsen ist die 32-Jährige in Salzburg und in der Steiermark. „Da war ich nie die Österreicherin. Und für meine Familie war ich immer die Österreicherin.“ Ihre Geschwister, die nach dem Krieg mit den Eltern nach Kroatien zurückgekehrt waren, hatten es leichter, eine nationale Identität zu entwickeln. Für die Oboistin selbst blieb das eine Leerstelle, die sie erst nach vielen Umwegen füllen konnte. Heute sagt sie, sie sei „Europäerin“.

Ewa Lovrenović kam “durch Zufall als Papier-Kroatin nach Kroatien”.

Diese offene, übernationale Identität ist für sie zugleich Befreiung und Erklärung, warum sie sich in Split nicht wirklich zu Hause fühlt. Ihr Bruder dagegen, der in Zagreb aufgewachsen ist, ist hingegen stark in seinem kroatischen Freundeskreis verwurzelt. Für ihn zählt die Nähe zu seinen Leuten, er kann sich ein Leben außerhalb kaum vorstellen. Ewa hingegen, die es gewohnt ist, immer wieder neue Freundschaften zu knüpfen, spürt die Enge dieser Mentalität.

„Ich bin ganz anders aufgewachsen. Die Menschen hier haben andere Werte. Sie sind sehr konservativ.“ Gleichzeitig erkennt sie darin auch positive Seiten: einen engen Zusammenhalt und die Gewissheit, dass man füreinander sorgt.

Diese Werte prägen nicht nur ihre Begegnungen im Alltag, sondern auch ihre Arbeit mit den Jugendlichen an der Musikschule. Dort erlebt sie, wie stark der familiäre Zusammenhalt die Entscheidungen der jungen Generation bestimmt. Viele ihrer Schüler wollen „unbedingt bleiben”. Selbst der Gedanke, für ein Studium nach Zagreb zu gehen, schreckt viele ab, da ihnen die Distanz von fünf bis sechs Stunden Busfahrt zu groß erscheint und sie ihre Familie nicht so weit weg haben möchten. Anstelle von Aufbruchsstimmung dominiert die Bindung an Heimat und Elternhaus. Viele sehen es bereits jetzt als ihre Aufgabe an, sich später um die Eltern zu kümmern, da es kaum staatliche Pflegeangebote gibt. Auch die Tatsache, dass viele Familien in eigenen Häusern leben, die vererbt werden und so für Sicherheit sorgen, verstärkt die Verwurzelung.

So ergibt sich ein Widerspruch: Für Ewa ist Split ein Ort, aus dem sie weg muss, weil sie dort kein erfülltes Leben führen kann. „Für mich passen auch die Karrierechancen jobmäßig nicht.“ Für die Jugendlichen, die sie unterrichtet, ist Split hingegen ein Ort, den sie nicht verlassen wollen, auch wenn die Möglichkeiten begrenzt sind. Während Ewa sich nach Weite und neuen Erfahrungen sehnt, finden sie in der Nähe, in der Familie und in der Vertrautheit eine Art Zukunftsversprechen. Gerade in diesem Spannungsfeld zwischen Bleiben und Gehen, zwischen Geborgenheit und Enge spiegelt sich die Grundfrage einer jungen Generation in Kroatien wider.

Ein bisschen Sightseeing muss sein.

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