Nordmazedonien, Tag 1: Apathische Jugend inmitten von Protesten
Die Suche nach der “Generation Zuversicht” ist in Nordmazedonien alles andere als einfach. Direkt nach meiner Ankunft erwartete mich ein Gesprächsmarathon, um genau diesen Schlagwörtern nachzugehen. Aber statt mit einer Chronologie von Terminen zu starten, zuerst ein Blick auf das, was vor genau sechs Monaten, am 16. März 2025, den kleinen Balkan-Staat erschüttert hat: Ein verheerender Brand in einer Diskothek in der Kleinstadt Kočani, rund 100 Kilometer von Skopje entfernt. 62 Menschen verloren ihr Leben, darunter hauptsächlich junge Erwachsene. Illegale Genehmigungen und damit einhergehend massive Sicherheitsmängel sollen die Gründe gewesen sein, warum dieser Brand eine so hohe Zahl an Todesopfern forderte.
Mit dem wöchentlichen Protest “March for Angels” wollen Freunde und Familienmitglieder der Opfer in Kočani gegen das Vergessen ankämpfen. Sie sind nicht die einzigen. Die Tragödie brachte Tausende Menschen im ganzen Land auf die Straße. Mehrere Initiativen und Protestgruppen entstanden in den Tagen und Wochen danach. Sie eint die Frustration über systematisches Versagen des Staates, eine untätige Justiz, und die gemeinsame Trauer. Abgesehen von den wöchentlichen Protestmärschen in Kočani sind die (friedlichen) Proteste im restlichen Land in den vergangenen Wochen und Monaten abgeebbt. Der Druck für nachhaltige, politische Veränderung ist ausgeblieben - ganz anders als in Serbien, wo der Einsturz eines Bahnhofsvordachs und der Ärger über Korruption, die als Grund für das Unglück ausgemacht wurde, ebenfalls Tausende Menschen auf die Straßen brachte. In Serbien sind die Demonstrationen zuletzt immer gewalttätiger geworden, in Nordmazedonien sind sie hingegen beinahe völlig von der Bildfläche verschwunden - obwohl das Thema nach wie vor jeden, mit dem ich am ersten Tag gesprochen habe, beschäftigt.
Warum die Proteste “eingeschlafen” sind, habe ich unter anderem die Journalisten Matej und Antonija gefragt. Die Rede ist von einer Regierung, die die Proteste zum Schweigen gebracht und eine Atmosphäre der Angst kreiert habe. Journalisten und Journalistinnen seien von der Polizei befragt worden und Protestierende seien davon abgehalten worden, Bilder von den Trauernden zu machen - etwa mit dem Argument, die Familien der Opfer schützen zu wollen. Aleksandar, ein junger Mann aus Skopje, nennt die Mentalität der Nordmazedonier als einen möglichen Grund für das abnehmende Interesse, aktiv zu demonstrieren. Man wolle sich nicht selbst engagieren, “die Anderen” sollen etwas tun und verändern. Die Jugend sei apathisch geworden, das höre ich auch von den Journalisten. In der Vergangenheit seien immer wieder Protestinitiativen aufgeflammt, vor allem durch Studentengruppen. Jede einzelne davon sei aber früher oder später im Nichts versickert.
Einen - zumindest kleinen - Gegenbeweis lieferte mir dann doch der erste Abend. Am zentralen Makedonien-Platz in Skopje hat die Protestbewegung “Koj e sleden” (“Who’s Next?”) eine Kundgebung ausgerufen. Um 20:16 Uhr trafen sich schätzungsweise rund hundert Menschen, hielten ihre Handys mit Licht in den Abendhimmel, und schwiegen, um der Opfer zu gedenken. Gleichzeitig saßen in den umliegenden Cafés und Restaurants viele Menschen, jung und alt, scheinbar völlig unberührt von der Kundgebung. Eine junge Frau namens Anelia, in Schwarz gekleidet, erzählt mir kurz, worum es der Protestbewegung geht. Schon der Tod einer jungen Frau Ende Jänner dieses Jahres war ein Auslöser. Sie wurde im Straßenverkehr in Skopje von einem 20-jährigen Autofahrer getötet, der keinen Führerschein hatte und betrunken am Steuer saß. Nur wenige Wochen später kam die Katastrophe in Kočani dazu. Der Ärger der Menschen unter anderem wegen schleppender Aufarbeitung habe die Anliegen der Protestbewegung unterstrichen. Anelia möchte nicht, dass ich ein Bild von ihr mache - die Protestbewegung sei im Fokus der Regierung, die sich weniger mit den Forderungen der Protestierenden auseinandersetzt, als mit der Bewegung an sich, kritisiert sie.
Auf dem zentralen Makedonien-Platz wurde ein Briefkasten aufgestellt, in denen Menschen eine Nachricht für die Familien der Opfer hinterlassen können. Am kommenden Samstag werden die Briefe nach Kočani gebracht.
Am Donnerstag geht meine Reise weiter nach Kočani, wo ich mich mit Vertretern einer jungen Initiative, die nach der Brandkatastrophe entstanden ist, treffe.