Nordmazedonien, Tag 4: Ein sicheres Nest für junge Menschen
An meinen letzten beiden Tagen in Nordmazedonien ging es zurück zum Start. Nein, (noch) nicht nach Österreich. Sondern eine thematische “Rückreise” dorthin, wo ich am ersten Tag eher zufällig darüber gestolpert bin: Die Proteste als Folge der Tragödie in Kočani.
Ich bin in die Kleinstadt rund 100 Kilometer östlich von Skopje gereist. Vor einem halben Jahr, am 16. März, starben in dieser 38.000 Einwohner zählenden Stadt 62 Menschen bei einem verheerenden Brand im Club Pulse. Darunter hauptsächlich junge Menschen. Die Ursache sollen massive Sicherheitsmängel gewesen sein, die durch vermutlich illegale Genehmigungen verdeckt blieben.
Die Diskothek “Pulse” - oder das, was von ihr noch übrig ist. Hier verloren 62 Menschen vor sechs Monaten ihr Leben.
Ich treffe mich hier mit jungen Vertretern der Initiative namens “SupportKocani” (“Unterstütze Kocani”), die nach der Brandkatastrophe entstanden ist. Als ich die Tür zu ihrem Jugendzentrum “The Nest" öffne, werde ich herzlich und mit einem großen Lächeln von fünf jungen Menschen begrüßt. “Komm’ herein, setz’ dich hin, mach’ es dir gemütlich. Kaffee, Wasser?” Der Raum ist eine Mischung aus (Start-up-)Büro und großem WG-Zimmer. Vor circa einem Monat haben sie hier das Jugendzentrum eröffnet. Es ist nicht fertig, betonen sie, aber es wird.
Was ich zu dem Zeitpunkt meiner Anfrage noch nicht wusste: Einige von ihnen sind Überlebende. Sie sind in jener Nacht dem Feuer entkommen. Ana ist eine von ihnen. Sie ist 25 Jahre alt. Ihr selbstsicheres Auftreten, ihre klare und gewählte Ausdrucksweise, ihre ruhige Stimme - sie wirkt sehr gefasst auf mich. Worüber sie erzählt, ist allerdings schwer zu fassen. Sie kann und will mir erzählen, was sie erlebt hat und was der Brand mit der Stadt gemacht hat, in der jeder jeden kennt: Die Verstorbenen und die Überlebenden. In unserer kleinen Runde sitzen an diesem Abend auch Anas Freunde und Kolleg:innen Marko (31) und Anastasija (24).
Zwei Burschen spielen Playstation im neu eröffneten Jugendzentrum. Sie sind 18 und 19 Jahre alt und ebenfalls Überlebende der Brandkatastrophe.
Die Initiative bildete sich an Tag 1 nach der Brandkatastrophe. Ein loser Zusammenschluss aus Freiwilligen kam nach und nach im Büro eines jungen Unternehmers zusammen. Sie wollten Klarheit in das Chaos zu bringen, um den Betroffenen und ihren Familien zu helfen. Denn die Lage war extrem unübersichtlich. Von offizieller Seite kamen keine gesicherten Informationen, niemand wusste: Wer ist tot? Wer hat überlebt? Wer ist schwerverletzt? Und: Familien hätten nicht gewusst, wo ihre Kinder sind. Aufgrund des Ausmaßes der Katastrophe und der Überforderung der lokalen Spitäler wurden zahlreiche Verletzte in anderen Ländern behandelt. Teilweise hätten Eltern geglaubt, ihre Kinder seien tot, weil sie sie in den Krankenhäusern nicht gefunden hätten, sagen mir die jungen Menschen. Die Initiative “SupportKocani” habe angefangen, Listen anzufertigen, gesicherte Informationen bereitzustellen und Spenden zu sammeln, unter anderem, um betroffenen Familien zu ermöglichen, zu ihren Familienmitgliedern, die im Ausland hospitalisiert waren (und teils noch sind) zu reisen. Österreich evakuierte sechs Schwerverletzte nach Wien und Graz.
Ana (hier im Bild) hat die Brandkatastrophe überlebt. Ihre Freundin Viktoria wurde schwerverletzt nach Graz evakuiert, wo sie ein Monat lang in Behandlung war.
Marko war von Anfang an bei dem Projekt dabei. Tag und Nacht hätten er und zahlreiche andere junge Menschen freiwillig ihre Zeit in einem kleinen Büro verbracht, vor ihren Bildschirmen, um eingehende Spenden transparent zu dokumentieren, Informationen zu sortieren, mit Familien und Opfern zu telefonieren, eine Website zu erstellen und auf Instagram (35.000 Follower) und Facebook über all das am Laufenden zu halten. Man habe sich über das gemeinsame Engagement gegenseitig Halt gegeben, betonen die Freiwilligen. Wie die jungen Menschen schließlich auf eigene Faust eine Organisation gründeten, ein Jugendzentrum eröffneten und welche Pläne sie für die Zukunft schmieden, schreibe ich demnächst für kurier.at auf.
Was mir abschließend für diesen Blogpost und damit für diese Reise noch zu sagen bleibt: Die Gespräche mit Ana, Anastasija und Marko in Kočani waren ein sehr besonderer Teil dieser Recherchereise. Die Apathie der Jugend, die mir am ersten Tag in Skopje beschrieben wurde, mag zu Nordmazedonien gehören. Genauso scheint aber auch der Tatendrang und die unerschütterliche Loyalität zwischen jungen Menschen Teil des kleinen Balkanstaats zu sein. Die “Generation Zuversicht” habe ich entgegen aller Erwartungen ausgerechnet in der Stadt gefunden, die viele junge Menschen schmerzlich vermisst.