Tag 1: Blockade! Wann, wenn nicht jetzt?
Alena: “Schau mal, hier sind überall Fuck-SNS-Graffittis.”
Simon: ‘’Überall. Auch hier, auf dem Schild des serbischen Fußballbunds.’’
Wir sind in Belgrad. SNS, also die Serbische Fortschrittspartei, ist die rechtsnationalistische Regierungspartei unter Präsident Aleksandar Vučić. Seit im November 2024 das frisch renovierte Bahnhofsdach in Novi Sad einstürzte und 16 Personen starben, gibt es heftige Proteste gegen das korrupte System Vučićs. Zehn Monate halten sie schon an, angeführt von Student*innen.
In den letzten Tagen geht die Regierung immer härter gegen Demonstrant*innen vor. Sie werden verprügelt, auch schwer, ihnen werden Knochen gebrochen. Dabei sind es häufig nicht Polizist*innen, die Gewalt auf den Protesten ausüben, sondern Regierungsanhänger*innen mit Baseballschlägern – auch Fußballhooligans.
Ein paar Straßen weiter stehen wir vor der philosophischen Universität. In den besetzten Universitätsgebäuden, “Blockada” genannt, organisierte die Student*innenbewegung sich in den letzten Monaten. Dort wurden Plenen abgehalten, die Protestierenden schliefen in den Hörsälen. Überall hängen auch jetzt Banner, sind Slogans an die Wände gesprayt. Gerade übermalt ein Arbeiter eine Aufschrift auf dem Boden: 1312, ein Code für “All Cops are Bastards”.
Banner auf der Philosophischen Fakultät Belgrad: Blockade, wann, wenn nicht jetzt?
Wir sprechen einen Studenten im Gebäude an. Er möchte jetzt keine Fragen beantworten, sondern einfach lernen. Eine junge Frau erzählt uns mehr: Der Unterricht findet jetzt online statt, die Prüfungen wieder an der Uni. Die Frage, ob diese jetzt noch besetzt ist, kann sie gerade nicht eindeutig beantworten.
Alena: ‘’Kannst du übersetzen, was da steht, auf dem Graffiti?”
Simon: ’’Es ist nicht besonders philosophisch, zu schweigen.’’ “Die Fakultät ist zu, die Augen sind offen.” Und da: “Kosovo ist Serbien.”
Bannerübersetzung: Es ist nicht philosophisch zu schweigen.
Uns fällt schnell auf, wie widersprüchlich die Slogans sind, die wir lesen. Wird auf dem einen Graffiti das Ende der Korruption gefordert, wünscht sich das andere die Rückkehr des Kosovo zu Serbien herbei. Regierungsgegnertum und auch Solidarität mit Menschen in Gaza finden sich auf den Wänden der Universität, während antifaschistische Botschaften sich unter nationalistische Ideen mischen. Journalist*innen wie Melina Borčak haben das von Anfang an beobachtet und auch davor gewarnt: dass sich zum Beispiel auf den prodemokratischen Demonstrationen auch faschistische Kriegsveteranen tummeln.
Alena: Es ist eine riesige Bewegung und Serbien ein postgenozidaler Staat. Dass da auch problematische Strömungen entstehen, wundert mich gar nicht.
Simon: Viele Student*innen betonen, dass alle gemeinsam für eine bessere Zukunft kämpfen. Wie können wir über diesen Nationalismus sprechen, ohne die Proteste als Ganzes weiter zu verunglimpfen?
Alena: Was auch schon genug passiert. Vučić meint zum Beispiel, sie seien aus dem Ausland bezahlt.
Simon: Wir müssen diese Gleichzeitigkeiten anerkennen. Und den Menschen hier zuhören.
Am Abend geht es zu unserem ersten Protest.