Tag 3 in Montenegro: Gespaltenes Land, zerrissene Jugend

Tag drei in Montenegro beginnt mit fünf jungen Angestellten der Addiko Bank. Zwischen Kaffeebecher und Excel-Tabellen reden sie über Zukunft, Wohlstand, Sicherheit. Fast alle wollen „die EU“ – nicht als Abstraktion, sondern als Versprechen: planbare Karrieren, Kreditkonditionen, die nicht im Rückspiegel altern, Reisefreiheit ohne bürokratische Zacken. Dass die Regierung den EU-Beitritt inzwischen mit einer konkreten Jahreszahl belegt, verstärkt diesen Pragmatismus – 2028 als Zielmarke, reformieren bis 2026, dann der politische Teil. Ambitioniert, aber in Podgorica wird diese Zahl zur Projektionsfläche für Geduld und Ungeduld zugleich.

Besuch in der Addiko-Bank, um mit jungen Mitarbeitenden zu sprechen.

Besuch in der Addiko-Bank, um mit jungen Mitarbeitenden zu sprechen.

Am Nachmittag sitze ich in den Räumen der EBRD. Eine Mitarbeiterin spricht über die innere Spaltung des Landes, die sich nicht mehr nur an Küste und Norden ablesen lässt. Sie setzt einen Marker: die Wahl 2020. Damals verlor die DPS nach drei Jahrzehnten ihre Alleinherrschaft; drei Oppositionslisten kamen zusammen auf 41 von 81 Sitzen – ein politischer Erdrutsch in Miniatur, der das Land wachrüttelte und zugleich nervös machte. Dass die Szene schon vor der Abstimmung fragmentiert und polarisiert war, hielt Brüssel akribisch fest.

Wer die Risse verstehen will, landet schnell bei der serbisch-orthodoxen Kirche. Die Massenprozessionen 2019/20 – entfacht durch das Religionsfreiheitsgesetz – machten Kirchhöfe zu Bühnen und Bischofsstäbe zu Megaphonen. Der Protestkanon war mehr als Liturgie; er war Mobilisierung, die das Wahlklima prägte und die Machtarithmetik 2020 mitverschob. Studien und Beobachter zeichnen diesen Einfluss detailliert nach.

Gestern beim Präsidenten: große Worte für Europa, und die klingen hier nicht nur wie Außenpolitik, sondern wie Innenauftrag. Die Einsicht steht im Raum, unausgesprochen und doch deutlich: Erst die Ungerechtigkeiten zu Hause angehen – von schwankendem Rechtsstaat über Vetternwirtschaft bis zu Jugendperspektiven – dann öffnet sich Europa leichter. Genau diese Reihenfolge treiben EU-Vertreter inzwischen öffentlich ein – Montenegro gilt als „Front-Runner“, aber einer, der seine Hausaufgaben sichtbar zeigen muss.

Hausfassade eines unfertigen Wohnblogs.

Draußen ist Podgorica eine Gleichzeitigkeit: Viele Zebrastreifen ohne Ampeln, der Verkehr ist ein einziges Hup-und-Hadern, und doch: Man sieht kaum Obdachlosigkeit auf den Straßen. Vielleicht, weil Armut hier stärker in die Peripherie oder in Familiennetze verschoben wird – ein Eindruck, kein Datensatz, aber er prägt das Stadtbild.

Zurück zu den fünf Dienstnehmenden in der Bank: Ihre EU-Zuversicht ist weniger Pathos als Kalkulation. Sie reden über (niedrige) Löhne, über Kredite, die nicht an informelle Sicherheiten gebunden sind, über Garantien, die ihr Versprechen halten sollen. In ihren Sätzen steckt die stille Weigerung, die Spaltung zu vererben.

Und doch bleibt der Riss sichtbar. Die Wahl 2020 hat gezeigt, wie rasch religiöse Symbole zu politischen Werkzeugen werden – und wie dünn die Membran zwischen Identität und Institution ist. Die EBRD-Kollegin nennt das „strukturelle Müdigkeit“: ein Land, das wirtschaftlich Tritt fassen will, politisch aber noch die eigenen Trittsteine sortiert. Solange Kirche, Partei und Nation so eng um dieselben Gefühle kreisen, bleibt jeder Reformschritt ein Balanceakt.

Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe der nächsten Jahre: aus der zerrissenen Jugend eine widerspruchstolerante Generation zu machen. Eine, die Ampeln baut, wo heute nur Zebrastreifen sind – nicht, um den Verkehr zu zähmen, sondern um Regeln sichtbar zu machen. Denn wer die Regel sieht, traut der Zukunft mehr.

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