Tag 4 & 5: Lissabons andere Seite
Tag 4 beginnt mit Wut und endet unter blickenden Lichterketten, die ein wenig an Weihnachten erinnern. Ein Blick, in den selbst ernannten Untergrund Lissabons.
Ich bin kein Morgenmensch. An vielen Tagen fühle ich mich eher wie ein Reptil, das Zeit und Wärme für den Start in den Tag braucht. Ein Doppelinterview noch vor dem Frühstück ist von daher nichts, was ich präferiere.
Doch sei es drum. De beiden aktivistischen Schwestern, die ich dank meines Stadtführers André von Dienstag kenne, können nur jetzt mit mir reden. Und ja, das Gespräch lohnt sich. Im Gegensatz zu meinen anderen Interviewpartnerinnen stehen die beiden Schwestern nicht in der ersten Reihe einer Organisation. Im Gegenteil, eine der Schwestern würde sich selbst nicht einmal als Aktivistin bezeichnen, sondern nur, dass sie sich aktivistisch betätige. Um sich als Aktivistin zu bezeichnen, braucht es ihrer Ansicht nach mehr, als bei Demonstrationen oder Gesprächen mitzumachen. Eine Einstellung, der ihre Schwester vehement widerspricht.
Was die beiden eint: Wut. Sie sind wütend, dass die Handlungen von Aktivist*innen in Portugal, wie auch in andere Ländern, teilweise verglichen werden mit terroristischen Handlungen. Sie sind wütend auf Regierungen, die nicht genug tun. Sie sind wütend, dass die Klimakrise ihrer Ansicht nach medial nicht ausreichend besprochen und vor allem in Zusammenhang mit Extremereignissen, wie starken Regenfällen und Waldbränden, kontextualisiert werde.
Der menschgemachte Klimawandel hat einen großen Einfluss auf Extremwetterereignisse. Grundsätzlich kommen diese vor, auch bereits vor dem menschgemachten Klimawandel. Doch in Folge des fortschreitenden Klimawandels steigert sich die Häufigkeit und Intensität von einigen Extremwetterereignissen, wie Hitzewellen, Starkregen oder Dürren. Die Klimawebsite „Carbon Brief“ zeigt mittels einer interaktiven Karte die Ergebnisse von 612 Studien, welche sich mit der Zuordnung von Extremwetterereignissen und dem Klimawandel beschäftigen. 735 Extremwetterereignisse- und trends wurden darin untersucht, mit dem Ergebnis: 74 Prozent der Ereignisse und Trends wurden durch den Klimawandel wahrscheinlicher oder verstärkt, rund neun Prozent weniger wahrscheinlich oder schwächer. Sprich: 83 Prozent der untersuchten Ereignisse wurden durch den menschgemachten Klimawandel beeinflusst.
Ich begebe mich nach dem Gespräch in Lissabons Untergrund. Zumindest nach Eigenbezeichnung. Zu einer Reportage braucht es auch aussagekräftige Bilder. Neben den Bildern von meinen Interviewpartnerinnen möchte ich noch mehr das Gefühl der Stadt einfangen. Am Abend zuvor sah ich beim Vorbeifahren im Bus Portraits und Streetart an einigen Häuserwänden. Blicken Sie auf das Beitragsbild: Ist das nicht wunderbar?
Mein Weg führt mich zum „Village Underground Lisboa“, ein Mix zwischen Eventgelände und Streetart. Hier stehen alte Busse auf Containern, es gibt Hochbeete und gusseiserne Pfade, die die Busse und Container verbinden. Als ich ankomme, richtet gerade eine handvoll junger Leute die Sitzfläche um die Bar her, hängen dunkle Wimpel auf und ändern immer wieder die laut abgespielte Musik. Ich fühl mich ein wenig wie ein Eindringling und gehe nach einem kurzen Rundgang weiter zur „LX Factory“. Auf dem ehemaligen Fabrikgelände finden sich heute Restaurants, Cafés, Startups, Streetart und 33 Concept Stores. Trotz des wiederkehrenden Fokus auf lokal produzierten Produkten und heimischen Künstler*innen erwecken diese doch einen kommerzielleren Eindruck, als ich angenommen hatte.
Meinen letzten Abend verbringe ich unter rot und grün blickenden Lichterketten. Ich besuche die Nichte einer Wiener Kollegin an ihrem Arbeitsplatz: dem “Emaús Pop-Up Arroios”. Das Emaús-Movement ist eine soziale Bewegung, welche sozial benachteiligte Menschen, wie etwa obdachlose Menschen, durch verschiedene Maßnahmen in vielen Ländern unterstützt.
Emaús Pop-Up Arroios ist Cafe und Second Hand-Store in einem. Von der Straße aus recht unscheinbar, finden sich im Hinterhof unter einem mit Lichterketten behangenen Baum viele Tische, Stühle und gemütliche Sitzecken auf Teppichen. Im Second Hand-Store findet sich ein breites Potpourri an Objekten, von bunter Kleidung, alten CDs und Schallplatten bis hinzu einer Mona Lisa an der Wand.
Es ist inzwischen dunkel. Im Schein der Lichterketten tauschen die gebürtige Belgierin und ich uns auch über ihre Sicht auf Europa und die Zukunft aus. Sie sorgt sich, dass die verschiedenen Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen zukünftig nicht mehr miteinander in Co-Existenz leben können. Die Macht das zu ändern, sieht sie in lokalen Gemeinschaften, die für einander eintreten. Sie stellt den Vergleich zur Familie aus. Dass sich immer alle gut verstehen, sei Utopie. Aber wie in einer Familie, sollten sich die Menschen akzeptieren, tolerieren und nicht ausschließen. Auch nicht bei Meinungsverschiedenheiten.
Dem habe ich nichts hinzufügen. Bis zum Herbst, wenn meine Reportage im DATUM-Magazin erscheint.
Obrigada Lisboa!