Thessaloniki: Wut, Demo und neue Initiativen
Von Milena Österreicher
Die letzten Tage waren geprägt von intensiven Gesprächen und spannenden Eindrücken. Ein Termin mit der Initiative CoHab Thessaloniki musste verschoben werden. Zwei andere Stellen zum Thema Wohnraum meldeten sich leider nicht mehr auf meine Anfragen.
Stattdessen nutzte ich die Zeit und sprach mit jungen Menschen auf der Straße und in Parks, und traf den Freund einer Freundin auf einen Kaffee. Immer wieder kam bei fast allen ein Thema auf – neben den alltäglichen Sorgen um Arbeit und Wohnen: das Zugsunglück von Tempi vor zweieinhalb Jahren.
Am 28. Februar 2023 ereignete sich das schwerste Zugunglück in der griechischen Geschichte. Nahe der Stadt Tempi stießen ein Passagier- und ein Güterzug frontal zusammen. 57 Menschen kamen ums Leben – viele von ihnen junge Leute aus Thessaloniki, die nach einem Feiertag auf dem Heimweg waren. Zahlreiche weitere wurden verletzt. Viele dürften allerdings nicht durch den Frontalcrash, sondern durch das Feuer gestorben sein, das unmittelbar danach ausbrach.
Dieses Unglück hat das Land tief erschüttert. Viele sehen darin nicht nur eine Tragödie, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse: mangelnde Bahnsicherheit, angeordnete Sparmaßnahmen von der EU, Privatisierungen, fehlende Investitionen und politische Verantwortungslosigkeit. Hinzu kommt der Vorwurf, dass die Aufklärung verschleppt und Teile des Geschehens vertuscht worden seien. Einige erzählen mir in den Gesprächen von der Vermutung, dass mutmaßlich illegal hochexplosive Chemikalien transportiert worden seien, die das Feuer auslösten.
Ein großer Demonstrationszug am 6. September in Thessaloniki.
Nach dem Unglück brachen landesweit Proteste aus. Seitdem wird jedes Jahr im Februar demonstriert. Doch auch heute, anlässlich der jährlich stattfindenden Internationalen Messe in Thessaloniki, zu der die Regierung anreist und Premierminister Kyriakos Mitsotakis eine Rede hält, füllten sich die Straßen erneut mit Tausenden Protestierenden aus dem ganzen Land. Sie protestieren für höhere Gehälter, mehr leistbaren Wohnraum, gegen Korruption, aber auch für die vollständige Aufklärung des Zugunglücks von Tempi.
Fotis Kizakis von Demotrust.
Einer, der nicht hinnehmen will, dass das Unglück bis heute nicht aufgeklärt und Konsequenzen gezogen worden sind, ist Fotis Kizakis. Er leitet den Think Tank “Demotrust”, der sich ein Jahr nach dem Ereignis deshalb gegründet hat.
Mich erinnert das Unglück und die Proteste danach in Teilen an den Einsturz des Bahnhofsdachs mit 14 Toten im serbischen Novi Sad und die darauffolgenden landesweiten Proteste, die zum Teil bis heute andauern.
Ob er in Griechenland eine ähnlich große und langanhaltende Protestbewegung sehe? “Eher nicht”, sagt Kizakis. Die Menschen seien frustriert und mit dem Bewältigen des Alltags beschäftigt. Seine Organisation möchte die Menschen jedoch empowern, Transparenz und Gerechtigkeit von der Regierung einzufordern.
Und gemäß dem Namen demotrust - also Democracy und Trust - soll wieder ein Vertrauen in Demokratie aufgebaut werden. Wenn auch eine besser funktionierende als sie derzeit herrscht. Denn das Vertrauen in die Politik sei längst erschüttert. Von der Finanzkrise über die Covid-Pandemie bis heute: die letzten Jahrzehnte waren von Krisen geprägt. Für die jüngere Generation sei das fast schon Normalität und entsprechend gering ist oft das Interesse an Politik, sagt Kizakis.
Auf ein Gespräch in der Heinrich Böll-Stiftung.
Darüber sprach ich auch bei meinem Besuch bei der Heinrich Böll-Stiftung mit Direktor Michalis Goudis und Vivian Kounio, Leiterin des Demokratie-Programms. Kounio erzählte von der niedrigen Wahlbeteiligung junger Menschen, aber auch von gestiegenem Rassismus, der von den rechten Parteien und dem aktuellen rechtsextremen Minister für Migration befeuert wird.
Goudis ergänzte Initiativen, die durch ihr Engagement “nebenbei” Demokratiearbeit leisten, etwa lokale Energiegemeinschaften, die sich - zwar im kleinen Rahmen, aber dennoch - zunehmend bilden.
Mehr gibt es dann in meinem Artikel zu lesen. Die beiden gaben mir auch Tipps, wen ich in Athen noch kontaktieren und treffen könnte. Denn nach einer Woche Urlaub geht es für mich weiter in die griechische Hauptstadt zum Rechercheabschluss. Auf bald, ich melde mich wieder aus Athen!