Tag 3: “Woanders kann ich mehr ich selbst sein”
Heute wird es spannend. Ich werde ein Interview führen, weiß aber noch nicht mit wem. Nachdem mir Eni gestern die Perspektive der "Bleibenden" näher gebracht hat, möchte ich heute jemanden finden der Albanien verlassen will. Meine dafür vorhergesehene Interviewpartnerin ist mir abgesprungen, darum improvisiere ich jetzt ein wenig und gehe in ein Jugendzentrum. Das Gebäude hat die Form einer Pyramide. Außen kann jede:r über Stufen bis hinauf zur Spitze gehen. Ursprünglich hätte es das Mausoleum des ehemaligen Diktators Enver Hoxha werden sollen. Dazu kam es aber nie. Mittlerweile ist es eine Technik- und Innovations-Hub. Mit Räumen auf unterschiedlichen Ebenen, die unkonventionell zusammengebaut sind. Jeder Raum ist quaderförmig und in einer anderen knalligen Farbe gestrichen. Das Jugendzentrum finde ich zwar nirgendwo. Dafür aber eine Debattiermeisterschaft an der Schüler:innen von rund 40 höheren Schulen aus ganz Albanien teilnehmen. Dieses große Glück habe ich sicher dem Vogel zu verdanken der mir gestern auf den Kopf gekackt hat. :)
Eine der Lehrer:innen stellt mir Selim vor. Der 16-jährige ist in einem Dorf in Albanien aufgewachsen und will unbedingt weg von hier. Und das obwohl er gute Chancen auf einen Job mit gutem Gehalt hätte. Selims Familie besitzt ein Haus aus dem er ein Hotel bauen könnte. Für ihn sind aber nicht, wie für viele andere die Jobaussichten das Problem, sondern die Mentalität der Albaner:innen. Er will weg, damit er woanders er selbst sein kann. Die Leute hier, vor allem die ältere Generation seien sehr strikt und verurteilen andere sehr schnell. In den USA oder Dubai dagegen sei das anders meint er. Auf die Frage hin, ob seine Entscheidung auch mit Schmerz und Wehmut verbunden sei meinte er: “Nein, es ist zu 100 Prozent Hoffnung.” Hoffnung auf ein besseres Leben mit einem hohen Gehalt, keiner Korruption und die Freiheit er selbst sein zu können.
Am Nachmittag nehme ich an eine Stadtführung teil. Ich möchte mehr über Albanien und Tirana wissen. Françesko ist 35 Jahre alt und in Tirana geboren. Vor drei Wochen ist der Vater geworden, was die Augenringe unter seinen Augen bezeugen. Trotz der Müdigkeit lächelt er und erklärt mir und den anderen sechs Teilnehmer:innen mit viel Realitätssinn und Humor, was in Albanien super funktioniert und was seiner Meinung nach die zwei größten Probleme sind. Korruption und Müll. Auf den ersten Punkt werde ich in meiner Reportage genauer eingehen. Zum Thema Müll: Überraschenderweise ist laut Françesko nicht wie in den meisten Ländern die Müllentsorgung das Hauptproblem. Wobei es auch hier Schwierigkeiten gibt, da vermutlich aufgrund von Korruption, nur zwei der sieben geplanten Entsorgungsanlagen gebaut wurden. Das Problem ist, das viele Menschen ihre Taschentücher, Verpackungen und so weiter einfach auf den Boden schmeißen. Es wird zwar mit der Zeit besser, aber der Weg sei noch lang.
Der Mix aus verschiedenen Religionen in Albanien ist unter anderem durch nicht ganz freiwillige Konvertierungen aufgrund verschiedener Herrscher entstanden. Derzeit sind zwischen 50 und 60 Prozent der Gesamtbevölkerung Muslime, gefolgt von rund 15 Prozent Christen (8 Prozent Katholiken; 7 Prozent Orthodox.) Dennoch kommen alle Religionen gut miteinander aus und sind wie Françesko es ausdrückt “befreundet.” Hier nimmt Albanien eine Vorbildrolle ein. Für Albaner:innen steht das familiäre Zusammen sein an oberster Stelle. Die Religion sei zweitrangig. Wenn die Christen Ostern feiern, dann feiern die Muslime mit. Genauso umgekehrt beispielsweise beim Ramadan. Eine wirklich schöne und harmonische Praxis. Albanien erkennt auch die Feiertage aller großen Religionen offiziell an, dafür gibt es etwas weniger Ferien zu Weihnachten und im Sommer.