Ungarn, Tag 4 - Von der Uni zum Ballroom
Menschen gehen an einem verregneten Tag in Budapest über die Straße.
Foto: Max Herbst
Am Morgen unseres letzten vollen Tages in Budapest schüttet es, als wir uns auf den Weg zu unserem ersten Interview machen. Gemeinsam mit einer Traube an Studierenden drängen wir auf dasselbe Gebäude zu: die Eötvös-Loránd-Universität. Vor der Fakultät für Geisteswissenschaften treffen wir den Medienrechtsexperten Dr. Gábor Polyák. Im Slalom durch den morgendlichen Trubel, vorbei an schweren Holztüren, führt er uns durch die Gänge der Universität. Als ich ihm sage, wie schön ich das Gebäude finde, lacht er: „Nur auf den ersten Blick.“ Auf dem Weg zu seinem Büro wird er von Studierenden freundlich gegrüßt, teils angehalten, um etwas mit ihm zu besprechen. Er scheint recht beliebt zu sein.
Wir setzen uns in sein Büro und platzieren ihn für die Fotos so, dass hinter ihm das Bücherregal zu sehen ist. So wie man sich bei einem Zoom-Call gerne vor eine Bücherwand setzt, um besonders intellektuell zu wirken. Nur dass es bei Dr. Polyák kein Schein ist. In den Regalen reihen sich englische, deutsche und ungarische Titel, denn er beherrscht alle drei Sprachen. Es ist das erste Interview unserer Reise, das wir auf Deutsch führen.
Medienrechtsexperte Dr. Gábor Polyák im Interview.
Foto: Max Herbst
Dr. Polyák erklärt uns, wie die Medienlandschaft in Ungarn funktioniert und wie die Regierung ungehindert Propaganda und Desinformation über die „öffentlich-rechtlichen“ Medien verbreiten kann. Auch die sogenannte „nationale Konsultation“ kommt in diesem Interview erneut zur Sprache. Hierbei schickt FIDESZ höchst suggestiv formulierte Umfragen an die Bevölkerung aus. Mehr dazu könnt ihr dann nächste Woche erfahren!
Am frühen Abend nehmen wir die M3 und steigen beim Budapester Westbahnhof aus. Wir folgen dem blauen Google-Maps Pfeil und irren durch die dunklen Straßen, bis wir vor einem unscheinbaren Tanzstudio stehen bleiben. „Vibes and Stuff“ ist auf dem Schild zu lesen. Hier treffen wir Domi, dessen „Stagename“ Vanessa ist. Domi ist vor vier Jahren vom Land in die Hauptstadt gezogen und ist Teil der heimischen Ballroom-Szene. Bei Ballroom handelt es sich um Wettkämpfe, bei denen Menschen in verschiedenen Kategorien gegeneinander antreten indem sie beispielweise Drag performen oder tanzen.
Foto: Max Herbst
Die Ballroom-Szene ist in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Harlem entstanden und auf die afro- und lateinamerikanische Community zurückführen. Hier haben queere Menschen, die von ihren eigenen Familien aufgrund ihrer Sexualität oder Identität verstoßen wurden, eine Wahlfamilie gefunden. Die verschiedenen „Häuser“ der Szene werden von sogenannten Müttern und Vätern geleitet.
Foto: Max Herbst
Für das Interview zieht es uns ans Donauufer. Wir setzen uns auf eine Bank. Wir haben Domi versichert, dass wir ein schnelles Interview führen können, damit er rechtzeitig wieder zum Training kommt. Doch Domi scheint keine Eile zu haben, denn am Samstag läuft er auf einem Ball in Rotterdam und will sich ohnehin schonen. Er erzählt, dass die Szene dort viel größer sei als in Budapest. Hier mache er sich Sorgen, dass in Zukunft noch mehr Menschen aus der Community wegziehen. Das Gespräch, das eigentlich nur kurz dauern sollte, zieht sich fast eine Stunde, bevor wir gemeinsam zurück ins Tanzstudio gehen.
Drinnen leuchtet neonpinkes Licht, es ist warm und schwül. Die Ventilatoren schaffen kaum Abhilfe. Als Domi zur Probe stößt, ist sie fast vorbei. Doch ohne groß Aufwärmen schaltet er von null auf hundert und verwandelt sich in seine Stage-Persona. Zwischen den Tänzer*innen herrscht spürbares Vertrauen: ein Blick, ein Schnipsen, ein Zucken im Mundwinkel und alle wissen, was zu tun ist. Feedback wird offen gegeben, oft ermutigend. Sie bewegen sich wie wunderschöne Wirbelstürme durch den Raum, ohne einander zu berühren. Der Raum war voller Energie, Rhythmus und Zusammenhalt. Ein schöneres Finale für unsere Recherche, hätten wir uns kaum wünschen können.