3. und 4. Oktober: Eurotours-Recherchereise nach Ungarn mit Florian Scheible und Ágnes Czinulszki

Endlich in Berettyóújfalu.


Nachdem wir am Abend unseren Anschluss verpasst haben, gestaltet sich unsere Anreise nach Budapest und danach weiter nach Berettyóújfalu, im Osten Ungarns, zu einer kleinen Odyssee. Unsere Organisationskünste sind gefragt, denn der letzte Zug nach Ungarn ist abgefahren und auf Grund von Bauarbeiten und späten Zügen wackelt unser Plan, am 4. Oktober um die Mittagszeit in Berettyóújfalu zu sein. Dabei ist alles durchgetaktet.

Ein großes altes Gebäude in Budapest vor dem alte Straßenbahnen fahren

Nach einer kurzen Nacht in Budapest startet unsere Reise druch die weite Pustza, bis kurz vor die rumänische Grenze, nach Berettyóújfalu.
Foto: Florian Scheible

Unausgeschlafen, aber mit einem großen Erfoglserlebnis sitzen wir am 4. Oktober in der Früh im Mietauto und fahren einmal quer durch die Puszta. Sie ist ausgefegt. Im wortwörtlichen Sinn – durch den Wind – und auch im übertragenen: Die Felder – Unmengen an Sonnenblumen – wurden bereits abgeerntet. Hier und dort fahren Traktoren in der öden Landschaft und ziehen Staubwolken hinter sich her. Unterbrochen wird die Eintönigkeit durch vereinzelte Büsche und in den Herbst neigende Laubbäume, die sich im Wind, wie große, menschliche Köpfe vor und zurück wiegen. In den Ortschaften stehen am Straßenrad Zwiebelsäcke und angemalte Tafeln mit der Aufschrift “Ungarische Melonen”. Als gebürtige Ungarin, überkommt Ágnes ein Hauch von Nostalgie.

Unser Ziel ist L. Ritók Nora und ihre rechte Hand, Tamás Veress. Nóri, wie sie gerne genannt wird ist eine schillernde Persönlichkeit, die 1999 die Igazgyöngy Stiftung gegründet hat. Vor zehn Jahren hat Ágnes sie als angehende Journalistin das erste Mal besucht und erlebt. Mittlerweile 63 Jahre alt hat Nóri seither nichts von ihrem Elan und ihrer Energie verloren, mit der sie in den gottverlassenen Ortschaften rundum der Stadt Berettyóújfalu Hilfe bringt.

Ein Straßenschild neben einen leeren Fahrbahn und leeren Feldern

Anfang Oktober sind die Felder abgeerntet. Ein monotones weitläufiges Bild stellt sich während der Fahrt ein.
Foto: Florian Scheible

Auch heute spricht sie wie ein Maschinengewehr und schafft es in einer Stunde die Gesamtsituation der Stiftung zu skizzieren. Von den schwierigen Gegebenheiten, von der oft gehässigen Allgemeinstimmung des Landes und der Hoffnung, dass trotz allem, Familien, die seit Generationen in Armut leben, den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen können.


"Was ich in den letzten 24 Jahren gelernt habe, ist, dass du dieser Generation helfen musst, damit es die nächste schafft“, ist ihre Konklusio. Tamás sitzt neben ihr. Er wird in einigen Jahren die Leitung der Stiftung übernehmen. Nóri ist mittlerweile 63 Jahre alt und plant in Pension zu gehen. Um kurz vor drei Uhr schaut eine der vierzig Mitarbeiterinnen zur Tür herein während wir das Interview im winzigen Zimmer führen: „Du musst gehen", sagt sie. Nóri ist eigentlich Kunstlehrerin – seitdem sie aber die Stiftung führt, ist der Unterricht auf der Strecke geblieben. Ganz will sie es nicht lassen, denn sie findet Feldarbeit genauso wichtig, wie die Organisation dahinter. „Damit man weiß, wovon man spricht“, so Nóri.

Ein ehemaliges Wohnhaus wurde zum Büro und Lager für die Igazgyöngy Stiftung umgestalltet.
Foto: Florian Scheible

Sobald machen wir uns mit Tamás auf, um die Famiie zu besuchen, die wir für unsere Recherche für Eurotours 2023 begleiten werden. Der Vater arbeietet in Deutschland, die Mutter mit den sechs Kindern lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Berettyóújfalu. Wir wollen uns vorstellen, damit sie wissen, wer sie morgen fotografieren und befragen wird. Im Haus mit Hof leben nicht nur die Mutter und fünf der Kinder plus eine Schwiegertochter, sondern auch drei Hunde, eine Katze und eine Ziege.
Sie empfangen uns herzhaft, wir erklären woher wir kommen und was unser Vorhaben ist. Ununterbrochen fließen an diesem Tag die Informationen.

Ein Wohnhaus vor dem vielen Bäum stehen

Die Monotonie des ländlichen Raumes wird durch die harten Strukturen der sozialistischen Stadtarchitekur in Berettyóújfalu gebrochen.
Foto: Florian Scheible

Unser großes Glück: Ágnes ist gebürtige Ungarin und versteht alles – es braucht keine*n Übersetzer*in. Während Ágnes die Organisation für den nächsten Tag festlegt, sieht Flo schon ein spannendes Fotomotiv nach dem anderen. Wir schütteln noch einmal Hände, stellen uns auch drei der Kinder vor, die schüchtern daneben stehen und verabschieden uns bis morgen. Mit der späten Nachmittagssonne im Rücken fahren wir zurück in die Stadt, um noch einige Impressionen von dort zu sammeln und danach in unser Hotelzimmer nach Debrecen zu fahren. Debrecen ist eine Universitätsstadt und ist zirka 40 Kilometer entfernt, aber es scheint uns, dass ganze Welten zwischen dem kleinen Dorf und Debrecen liegen. Reichtum und Armut so nah beieinander. Es ist ein komisches Gefühl so kurzfristig in beide Welten eingetaucht zu sein. 

Ein großes Wohnhaus an dem ein Fahrradfahrer vorbei fährt

Obwohl die Straßen oft sehr ruckelig sind und es nicht durchgängige Radwege gibt: Fahrräder sind auch im Osten von Ungarn beliebte Fortbewegungsmittel.
Foto: Florian Scheible

Wir hatten den ganzen Tag keine Zeit, uns etwas zum Essen zu schnappen und gehen in ein nahes Restaurant. Gleichzeitig läuft der Fernseher – Barca gegen Porto –, spielt das Radio und lachen die Menschen. Uns fällt ein, was uns die Mutter am Nachmittag über den Tagesplan der Familie gesagt hat: Es wird ein Chaos, ein pures Chaos. Und genau das spüren wir während wir den ersten Blogbeitrag verfassen.

Ein Selfie von Florian und Ágnes im Auto

Liebe Grüße von uns Zweien.

Morgen geht es weiter. Wir sind gespannt, ihr hoffentlich auch.

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