Je weiter weg, desto auffälliger der Kontrast

7. und 8. Oktober: Eurotours-Recherchereise nach Ungarn mit Florian Scheible und Ágnes Czingulszki

Wir sitzen im Railjet nach Innsbruck und denken an die letzten 3,5 Tage, die wir im Osten  von Ungarn verbracht haben. Wir hatten sehr viele Gespräche mit den verschiedensten Menschen, sahen viele Zuhause von innen, hörten viele Geschichten, aber jetzt stellen wir das Erlebte in Relation. Mit jedem Kilometer, den wir hinter uns bringen, kommt uns vor, als ob die Reise schon längst hinter uns liegen würde. Der Alltag, die Schicksale, die Probleme, denen wir dort begegnet sind, sind aus der wachsenden Distanz krasser, wie wir sie vor Ort erlebt haben. 

Ein Wohnhaus in der Gemeinde Told in Ungarn. Die Fenster fehlen und der Putz bröckelt von der Hausmauer

Wohnhaus mit außenbereich in Told. In dieser Gemeinde leben 280 Personen. Es gibt keinen Supermarkt, kaum Anschlüsse zu fließendem Wasser, keine Post und keinen Arzt.
Foto: Florian Scheible

Die Diskrepanz zwischen den Welten, in denen wir unseren Alltag leben und der Welt, die wir vor Ort in Ungarn erlebt haben, ist immens. Während in Österreich fließendes Wasser selbstverständlich in unseren Haushalten aus dem Hahn fließt (oder es zumindest einen Anschluss gibt), wünschen sich Menschen in Told, wenn sie im Lotto gewinnen würden, genau das: Einen Anschluss an fließendes Wasser und ein Haus mit einem Badezimmer. Vielleicht im Nachbarsdorf, denn dort gibt es einen Supermarkt. Ihre Fantasie kann darüber hinaus gar nichts erfassen. Das schockiert mich besonders.

In kleinen Dörfer haben nicht alle Haushalte eine Trinkwasserversorgung. Der Eisengehalt im Brunnenwasser, drängt sich geschmacklich auf.
Foto: Florian Scheible

Für die Familie mit sechs Kindern, die wir in einer kleinen Gemeinde mit 711 Einwohner*innen im Osten des Landes besuchen, ist das monatliche Einkommen – inklusive Kindergeld – umgerechnet 300 Euro. Wenn am Schulanfang vier schulpflichtige Kinder insgesamt 32 Rollen Klopapier, Taschentücher en Masse und ähnliches zum Schulanfang in der Schule abgeben müssen, kann es schon mal vorkommen, dass es Zuhause all diese Dinge dann gar nicht mehr gibt. Besonders ärgerlich ist es, wenn man es der Schule übergeben hat und es trotzdem kein Klopapier auf keiner der acht Toiletten der Damenklos zu finden sind. Und wie man einkauft, wenn der einzige Laden vor Ort um ein vielfaches mehr Softdrink-Auswahl hat als Gemüse und Obst zusammen? Na, dann gibt es Apfelsaft und eingeschweißte Croissants mit Füllung als Frühstück.

Die Schule befindet sich in der Dorfmitte und wurde für 120 Mio HUF (310 tsd Euro) mit EU-Geldern renoviert.
Foto: Florian Scheible

Wir wollen aber eigentlich nicht über die Armut sprechen. So gut wie alle sind arm oder ärmer in den Ortschaften, die wir im Osten besucht haben. Wo wir waren, lebt man entweder von der Gemeindearbeit – ein Konzept, das es so im Westen eigentlich nicht gibt, aber mit den 1-Euro-Jobs vergleichbar wäre – oder von der Agrarwirtschaft. Ein hart erwirtschaftetes Geld. Im Laufe der Zeit, stellt sich heraus, dass auch hier Lörinc Mészáros – der in Ungarn als der (heimliche) Strohmann des Ministerpräsidenten Berühmtheit (und Vermögen) erlangt hat – viele der Felder gehören.

Ein Traktor, der auf seinem Anhänger Stroh befördert. Hinter ihm fährt ein Mann auf einem Moped

Auch ohne Karte weiß man, dass man in der Puszta unterwegs ist.
Foto: Florian Scheible

Auch Tibor, ein Feldbesitzer von 9 Hektar in der Gegend, erzählt davon, wie Mészáros versucht hatte, sein Land zu kaufen. „Ich gebe es aber nicht her, in zehn Jahren wird es mehr Wert sein.“ Irgendwann, als wir ihn Fragen, ob er denn in zehn Jahren dann verkauft, meint er nur: „Nein, auch dann nicht. Meine Familie musste nie hungern, weil wir Felder hatten.“ Da es was zu feiern gibt, ist er schon betrunken, lallt vor sich hin und bedrängt mich. Erst nur lustig – „ich will dich heiraten“ – dann übergriffig: Er langt mir ans Bein und wandert immer weiter auf den Oberschenkel rauf. Irgendwann wird er von mir in die Schranken gewiesen – die Kneipe lacht über ihn und er setzt sich nach einer Verlegenheitspause, in der er noch immer vor mir steht, zurück auf die Bank, wie ein geschlagener Hund. 

Diese Welt ist eine andere: In Innsbruck hätte ich dieses Verhalten längst beanstandet. Aber hier ist das Usus – halbwegs junge Frauen haben nur dann ihre Ruhe, wenn sie mit wem zusammen sind – und ich wollte nur beobachten und sehen, wie weit er gehen würde, mit der „feinen“ Ungarin, die in Österreich lebt. 

Eine Straße im Dorf. Zwei Mädchen sind von hinten zu sehen, wie sie die Straße entlang gehen. Ihnen kommt ein kleines orangenes Auto entgegen.

Abends geht die Jugend durchs Dorf. Von Haus zu Haus spaziert werden Freunde eingesammelt. Das Ziel: Papier für die Schule zu sammeln.
Foto: Florian Scheible

Auch Flo steht immer wieder im Mittelpunkt: Wir werden wie kleine Stars behandelt. Zwei Mädchen in der Schule, die wir besucht haben, laufen auf uns zu, umarmen uns mehrmals und gehen kichernd wieder fort. Auch die Frauen in Told, die für die Stiftung arbeiten, wollen Flo in den Arm nehmen. Sie kichern und machen lustige Bemerkungen. Sie kennen blonde, blauäugige Männer vor allem aus dem Fernsehen. Die Frauen sind trotzdem um einiges zurückhaltender und werden nie übergriffig. 

Wir sind auffällig, die Kinder und auch die meisten Erwachsenen sind neugierig, warum wir hier sind. Als wir eines abends mit den Jugendlichen versuchen Papier zu sammeln, drehen sie sich immer wieder nach uns um, um sich zu vergewissern, dass wir noch da sind und nicht einfach verschwinden. 

Wir fühlen, die Menschen sind nett zu uns und fühlen sich stolz, dass sich jemand für das Dorf interessiert. Fast alle sind sehr herzhaft. Besonders die Mutter der Familie, Márti (Name v. d. R. geändert) ist offen, zeigt uns das Haus mit den Lehmziegelsteinen, ihre Küche und sogar ihren Kühlschrank. Darin befindet sich vor allem Fleisch – Teile der geschlachteten Schweine, die sie halten –, Pommes und das Essen des Vortages. Alles tiefgefroren, weil der Kühlschrank kaputt ist und nur die Gefriertruhe funktioniert. In diesem Haus zu wohnen ist aber kein Spaß. Drei Zimmer sind nutzbar, in der insgesamt sieben Personen leben. Der Rest: ein Nebenhaus, die hinteren Räume, der Hinterhof sind voller Müll. Das ist aber nicht unser Fokus. Irgendwie nehmen wir das hin, weil wir es auch bei anderen Häusern mehr oder weniger so sehen. 

Ein Garten, in dem ein Traktorreifen halb vergraben steht und ein Hund im Schatten schläft

Einer von drei Hunden der Familie ruht sich im Schatten aus.
Foto: Florian Scheible

Wer arm ist, sechs Kinder aus dem nichts versorgen muss, Diabetes hat und jede Menge Schulden – das sind die Themen vieler armen Familien –, lebt von einem Tag auf den anderen. Auch Márti kann keine drei Wünsche aufzählen, wenn ich sie frage, was sie sich denn wünschen würde: Sie wiederholt immer nur „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht“, dann fällt ihr doch noch was ein. Sie wünscht sich, dass ihre Kinder gesund bleiben, fleißig sind und auch weiterhin auf sie hören, 

„Im Dorf mögen uns alle, weil wir hart arbeiten. Meine Söhne sind keine Säufer“, sagt Márti und das ist das nächste Thema: Alkohol. Einzelne Bewohner*innen haben in der Früh in der einzigen Kneipe des Ortes um neun Uhr schon ihren zweiten Kurzen, das 3. Bier und die frischesten Schulden. Als der Vater der Kinder – Pista (Name v. d. R. geändert) – endlich aus Deutschland zurückkommt lieben ihn alle Dorfbewohner. Der erste Weg nach der Eheschließung – sorry für den Spoiler, gleich kommt mehr dazu – führt in die gegenüberliegende Kneipe. Alle mögen Pista, denn am Ende des Wochenendes zahlt er die Rechnungen, bevor er wieder nach Deutschland zurückgeht.

Die Braut und der Bräutigam sehen sich zum ersten Mal

First look. Der Moment an dem der Bräutigam die Braut zum ersten Mal sieht.
Jeder Fotograf hat wohl schon einmal eine Hochzeit mit “First look” fotografiert — diese hebt sich von Flos Vorherigen ab.
Foto: Florian Scheible

Und jetzt die große Überraschung: Pista und Márti heiraten. Nach 21 Jahren, sechs Kindern, 1.400 km Entfernung und mehrmaligen Trennungen. Niemand kann es im Ort fassen, aber es passiert. Als wir das zufällig erfahren, entscheiden wir, noch einen Abend im Ort zu bleiben, um die Hochzeit zu fotografieren und Pista kennenzulernen.

Die Braut und der Bräutigam gehen die Straße entlang. Auch zwei Kinder sind dabei

Mit Lauter Musik aus einm Bluetooth-Box geht es mittig auf der Straße in Richtung Gemeindehaus. Nach 21 Jahren und sechs Kindern wird geheiratet.
Foto: Florian Scheible

Während Márti mit der Organisation der Hochzeit beschäftigt ist, schon am Vorabend richtet sie den Raum im Kulturhaus her, ist nicht einmal klar, ob Pista es rechtzeitig zur Eheschließung schafft. In letzter Minute ist er in Deutschland losgestartet, die Bahn ist verspätet und er muss für 130 Euro ein Taxi nehmen, damit er rechtzeitig am Flughafen ist. Irgendwann um Mitternacht kommt er an und Márti ist um fünf Uhr in der Früh schon wach, backt die Schnitzel für die Hochzeit und macht sich schön. Einen Hochzeitsplaner oder Freundinnen, die mitorganisieren, das gibt’s natürlich nicht. Alles macht Márti. Hilfe hat sie von ihren Töchtern, ihrer Schwester und der Schiwegertochter. Die Haare, die Nägel, die Schminke. Als wir kurz nach acht Uhr vorbeikommen, ist sie schon in voller Tracht. Um sie herum die anderen Frauen und Mädchen, die sich ebenfalls herrichteten. Wir sind Beobachter*innen einer stark hierarchischen Gesellschaft. Als Flo Servietten auf den Tisch legt und ein bisschen mit der Vorbereitung hilft, wird hinter vorgehaltener Hand gekichert. Die Männer sind zum Schleppen da und für den Alkohol zuständig.

Ein Mann von hinten fotografiert. In seiner Hosentasche ist eine Flasche mit Alkohol

Foto: Florian Scheible

Foto: Florian Scheible

Die Hände der Braut. An ihrem Finger steckt der Ehering.

Der frisch angesteckte Ehering passt gut zu den Nägeln
Foto: Florian Scheible.

Meine Freundin, die Journalistin in Ungarn ist, meint, als sie Flos Bilder von der Hochzeit sieht: „Du hast die Essenz des Landes eingefangen“ – und sie zeigt auf die Alkoholflaschen, die die Männer zum Standesamt schleppen und aus ihren Hosentaschen hervorlugen. Ob nur das die Essenz ist, das wollen wir nicht glaube: Eher die Essenz vieler Probleme. 

Eine Landschaft ohne Unterbrechung: Sie erlaubt einen weiten Blick — ungewohnt für unsere Innsbrucker Augen.
Foto: Florian Scheible

Dafür ergeben sich in der Puszta die schönsten Sonnenuntergänge, die wir je erleben durften.
Foto: Florian Scheible

Wir gehen zumindest mit dem Gefühl, so viel gesehen zu und Neues gelernt zu haben, als ob wir mehrere Wochen unterwegs gewesen wären. Wir müssen alles erst noch verdauen und hoffen darauf, am Ende eine authentische Reportage abliefern zu können, die Armut  und die Lage von zerrissenen Familien, nicht von der voyeuristischen Warte aus behandelt, sondern in vielen verschiedenen Schattierungen vorstellen kann.

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