Der 2. Tag – oder sind wir doch schon eine Woche unterwegs?

5. Oktober: Eurotours-Recherchereise nach Ungarn mit Florian Scheible und Ágnes Czinulszki

Stromleitungen vor einem blauen Himmel auf denen eine Vogel sitzt

Auf Grund der späten Stunde, der vielen Begegnungen und der tagelangen Unausgeschlafenheit gibt es heute nur einzelne Appetitanreger auf weitere Blogeinträge.

Wir sind am Donnerstag vor Sonnenaufgang aus den Federn gewesen, um die Familie, über die wir unsere Reportage zum Thema Eurowaisenkinder schreiben, in ihrem Alltag zu begleiten. Uns wurde ein wunderbarer Sonnenaufgang und auch ein ungewöhnlicher Aufbruch in die zweisprachige Schule (rumänisch/ungarisch) und Arbeit zu Teil. Wir lernten nicht nur ein wenig die Familiendynamik kennen – von der schwangeren Schwiegertochter, die den Haushalt macht während die anderen arbeiten und in die Schule gehen bis hin zum großen Sohn, der als Traktorfahrer für verschiedene Unternehmen auf den umliegenden Feldern arbeitet.

Ein Feld mit rosa Sonnenuntergang im Hintergrund

Kurz vor dem Sonnenaufgang, auf dem Weg zum Dorf der Familie.
Foto: Florian Scheible

Ein altes Haus vor einer Straße

Das erste Sonnenlicht streift die Häuserwände.
Foto: Florian Scheible

Aber vor allem haben wir auch die Dynamik des Dorfes kennengelernt. Vom neuen Schuldirektor über den unsicheren (und vielleicht auch etwas angetrunkenen) neuen Sozialarbeiter bis hin zum Kneipenbesitzer und wohl ärgsten FC-Milan-Fan, dem wir je begegnet sind. Wir lernten von fehlendem Klopapier und Fußball, von neugierigen, fragenden Kindern, von ihren Berufswünschen (Soldatin, Koch, Zimmermädchen, Traktortfahrer), von Landstraßen, Traktoren, Traktoren und noch mehr Traktoren, von Krautraps und wie der Krieg die örtliche Landwirtschaft beeinflusst, warum man in Deutschland jetzt mehr ungarisches Lamm kauft, was ein Sackdorf aussieht, wo es schön ist, was hier angebaut wird und so weiter und so fort.

Ein Feld auf dem ein Traktor fährt mit blauem Himmel im Hintergrund

Landwirtschaft bestimmt nicht nur die Landschaft, sondern auch viele Berufswünsche der Kinder.
Foto: Florian Scheible

Das innere ener Bar. Im Raum stehen mehrere Tische, die Wände sind rot schwarz gestreift. In der rechten Ecke hängt ein Fernseher auf dem man eine Frau telefonieren sieht

Seit 3 Jahren hält der Barbesitzer eine Katze namens “Migrant”, das Tier würde das oft schwierige Klientel beruhigen.
Foto: Florian Scheible

Zu Mittag geht es weiter nach Told. Wir haben das Gefühl, im Osten von Ungarn sehr weit entfernt von der EU zu sein. Während Menschen in Sackdörfern weder eine Bankomatkarte haben, fließendes Wasser oder sichere Hauswände, müssen Organisationen – wie die Igazgyöngy Stiftung – einen Fußballplatz um 56 Mio. Forint in Told – umgerechnet ungefähr 144.000 Euro – bauen. Im Ort leben 280 Bewohner*innen, davon wohl 90 Kinder. Es gibt 16 Sicherheitskameras. Fußball spielt hier niemand. Der Grund für diese abstruse Maßnahme: Eine Voraussetzung der Regierung, um weitere Gelder eines Aufhol-Projektes für besonders abgehängte Gemeinden abzuholen. Das nagelneue, abgesperrte Fußballfeld sieht aus wie als ob es zufällig auf Durchreise wäre.

Wir lernen aber auch Frauen kennen, die hier endlich Arbeit finden, sticken, malen und eine Gemeinschaft bilden – all das gab es vor wenigen Jahren noch nicht. Alles eine Entwicklung der Arbeit der Igazgyöngy Stiftung

Das Fusballfeld ohne Spieler.
Foto: Florian Scheible

Ein leerstehendes Gebäude, fasziniert uns mit ihren Verziehrungen.

Foto: Florian Scheible

Mehr als 15 Überwachungskameras sind im kleinen Told angebracht.

Foto: Florian Scheible

Nach dem kleinen Abstecher in Told geht es zurück zu dem Dorf, das wir frühmorgens besuchten. Dort begleiten wir erneut die Familie. Diesmal gibt es mehr Zeit. Wir schauen in den Kühlschrank, stehen in der Küche, reden über die Vergangenheit, die Gegenwart, aber kaum über die Zukunft, während Márti uns mit einer Packung gefrorenem Sanddorn beschenkt, das hier in der Gegend gepflückt wird. Für sie und ihre Familie ist es die einzige Möglichkeit im Winter an Vitamin C zu kommen. Sanddorn soll sehr gesund sein – erklärt uns Márti. Nach dem Besuch auf dem Spielplatz, wo wir  mit den Kindern ein bisschen Ball kicken, schaukeln und etwas ausschalten, begleiten wir eines der Mädchen, Barbi (Name d. Red, geändert), und ihre Freund*innen zum Papiersammeln – eine jährliche Aktion der Schulen, damit die Kinder ein bisschen Geld für die Schulkasse sammeln können. Das Altpapier wird aufgekauft, das Geld fließt in die Klassenkassen und kommt den Schüler*innen zugute. 

Bei acht Personen im Haushalt läuft die Waschmaschine fast ununterbrochen.
Foto: Florian Scheible

Es ist schon dunkel als wir uns von der lustigen Truppe verabschieden – leider hatten sie keinen Erfolg. Bei den Häusern, an denen sie klingelten nutzten die meisten die gratis Prospekte – ein Zeitungs-Abo ist in dieser Umgebung unvorstellbar – als Brennmaterial zum Einheizen oder Kochen. "Sogar das Papier enthalten sie uns vor“, seufzen die Jugendlichen und bringen den ausgeliehenen Karren wieder zurück. 

Die Gruppe Jugendlicher rund um Barbi bleibt beim Altpapiersammeln leider ohne Erfolg.
Foto: Florian Scheible

Wir machen uns auf den Weg nach Debrecen. Es ist dunkel, die Straße ohne Beleuchtung und es fühlt sich an, wie in ein kurviges, unendliches Nichts zu fahren. Rundum Dunkelheit, nur der Lichtkegel der Scheinwerfer, den wir vor uns hintreiben. Schon als wir kurz drauf auf die Autobahn fahren – neu und ohne Schlaglöcher – wissen wir:

Es gibt noch so viel mehr zu erzählen.

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